Curriculum Vitae

Der Autor im Alter von 56 Jahren
Der Autor im Alter von 56 Jahren

Manfred Burba

Geboren 1936 in Walsrode/Lüneburger Heide, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in der Nähe von Göttingen. Aufgewach- sen in dem kleinen Industrieort Bomlitz (Abbildung). Nach dem Abitur in Walsrode, 1957, Studium der Chemie, Pharmakologie und Biochemie der Pflanzen an der Universität Göttingen bis 1967. Von da ab als Chemiker in einem mittelständischen Unternehmen der Pflanzenzüchtung in Forschung und Entwicklung international tätig, seit 2001 in Pension. Nebenberufliche Tätigkeit als Privatdozent an der Technischen Universität Berlin (Lehrbefugnis für Zuckertechnologie im Fachbereich Lebensmitteltechnologie und Biotech- nologie) seit 1976. Lehrtätigkeit am ehem. "Institut für die Zuckerindustrie", Berlin, bis 2008. In dieser Zeit über 50 wissenschaftliche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und -büchern auf dem Gebiet der Zuckertechnologie und Zuckerrübenzüchtung. Zum wissenschaftlichen Werdegang vgl. Zeitschrift ZUCKERINDUSTRIE 121 (1996), Nr.8 und 126 (2001), Nr.9 (Personalien).

 

Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Lyrik-Anthologien seit 1995. 

Interessengebiete: Musik des 18. Jahrhunderts, Venedig (Geschichte und Kunst), Landschaftsfotografie, NS-Geschichte und Literatur sowie Lyrik der Gegenwart.

Absolvent (Fernstudium) mit Schriftstellerdiplom der Cornelia Goethe Akademie, Frankfurt/Main, 2011.

 

Luftbild der Gemeinde Bomlitz (Han.) nach einer Postkarte von 1962
Luftbild der Gemeinde Bomlitz (Han.) nach einer Postkarte von 1962

 

Das Bild zeigt einen Blick auf Bomlitz, meinen Heimatort in der Lüneburger Heide von 1936 bis 1957, später wurde es Göttingen (bis 1989) und seitdem Einbeck. Ich habe also mit meinen Wohn-, Ausbildungs und Arbeitsplätzen Niedersachsen bisher nicht dauerhaft verlassen.

Die Chemie (Organische Chemie und Biochemie) habe ich zu meinem Beruf gemacht, die Literatur (Lyrik), die Musik (Mozart) und die NS-Geschichte zu meinen "Hobbies" und die Theoretische Physik ("Grübeln und Rechnen") zu meinem Traum.

 

Bilder der Kindheit

 

Ich kam mit dem Auto. Der alte Werkbahnhof, der schon immer mehr einem sechseckigen Garten-Pavillon oder einer Kapelle als einem Bahnhof glich, ist für den Personenverkehr schon lange gesperrt. Er gehört aber mit seinem roten Ziegeldach und der viereckigen Turmuhr seit 1915 immer noch zu den Wahrzeichen des kleinen Industrieortes, in dem ich aufgewachsen bin und meine Kindheit verbracht habe. Von der Autobahn Hannover – Bremen kann man B. in weniger als einer halben Stunde erreichen und so hatte ich mich kurzfristig entschlossen, dorthin zu fahren, um mit den Bildern meiner Kindheit im Kopf den Ort und das Grab meiner Eltern zu besuchen und nach einem alten Geheimnis zu sehen.

 

Von unserer ehemaligen Wohnung aus, einem Reihenhaus für Werksangehörige, konnten wir den Bahnhof sehen, wenn wir aus dem Stubenfenster schauten. Das Fenster ging nach hinten hinaus und gab den Blick frei auf die Gleisanlagen und den Lokschuppen der Werkbahn. Die Strecke dieser privaten Bahnlinie verlief von B. über Kibitzort und Gleisdreieck nach Cordingen und wurde in ihrer besten Zeit von kleinen E-Loks mit Stromabnehmern und Triebwagen befahren. Sie zogen in erster Linie offene Güterwagen beladen mit Steinkohle und Kesselwagen mit Säuren, Glyzerin und Lösungsmitteln für die verschiedenen Werkanlagen in der Umgebung. In Cordingen, wo die Schienen der Werkbahn vor einem Prellbock endeten und die Reichsbahn auf ihrem Streckennetz den weiteren Fracht- und Personen-transport übernahm, musste man deshalb in Richtung Hannover und Bremen umsteigen. Einen eigenen Bahnhof oder Warteraum hatte die Werkbahn dort nicht. In B. und Gleisdreieck gab es Nebengleise, die von der Hauptstrecke abzweigten, in den Wäldern verschwanden und uns Kindern Rätsel aufgaben, bis wir herausfanden, dass es dort weitere geheime Werkanlagen gab. Was wir vom Zaun aus sahen, waren schmale, asphaltierte Straßen, hohe Erdwälle und lange, spitz zulaufende Stahlstangen als Blitzableiter, die auf Betonfundamenten auf den Wällen standen. Sie führten zu verschiedenen Betriebsteilen einer teils unterirdisch angelegten „Fabrik für chemische Produkte“ mit dem Decknamen EIBIA GmbH, einer Geheimen Reichsache, von der man sonst nicht viel sah. Sie war perfekt getarnt und alle Flachdächer der massiven, aus Stahlbeton gegossenen Bunker hatten eine Dachbepflanzung, um sie für die Luftaufklärung des Feindes unsichtbar zu machen und keinerlei Hinweise auf die in den Wäldern versteckte Industrieanlagen zu geben … denn es war Krieg.

 

Von vorne, aus unserem Küchenfenster und dem daneben liegenden Schlaf-zimmerfenster, sah man auf den Sportplatz mit den beiden Toren, dem Umkleidehäuschen und den Tribünen, der zwischen dem Ledigenheim und der Badeanstalt lag. In Verlängerung des Sportplatzes, am Ende einer kleinen Kastanienallee auf einer Anhöhe gelegen, sah man die weiße Fassade des Hindenburg-Saals mit der Werksküche, dem großen Saal für Festlichkeiten, Mittagessen und Kino. Das Kino war die Attraktion unseres Dorfes, damit konnte nicht einmal das Radio konkurrieren und wir hatten einen wesentlichen Vorteil davon. Hier war nämlich mein Vater seit 1941 im Nebenberuf als Filmvorführer der „Hindenburg Lichtspiele“ tätig, was der ganzen Familie freien Eintritt zu allen Filmen verschaffte und uns das Warten in der Schlange vor der Kinokasse ersparte. „Der große König“ und „Kolberg“ waren meine Lieblingsfilme, aber die Tränen flossen auch in anderen Tragödien der Ufa, und natürlich gab es viel zu lachen in den zahlreichen Komödien mit Hans Moser, Theo Lingen und Heinz Rühmann, an die ich mich heute kaum noch erinnere.

 

Das Werk nahm den größten Teil des Ortes ein, der damals weniger als 1500 Einwohner zählte und war fast überall von einer hohen Backsteinmauer umgeben. Es gab vier Zufahrten und die zugehörigen Pförtnerhäuser, in denen die Pförtner und weiteres Personal untergebracht waren. Die Verwaltung der Firma und ein Teil der Labors befanden sich jedoch außerhalb der Mauern in einem großen, repräsen-tativen Verwaltungsgebäude, zu dem eine breite steinerne Treppe hinauf führte, an deren Ende zwei in Stein gehauenen Wölfe lagen und auf das Altwerk hinunterblickten. Gleich daneben, noch etwas höher am Waldrand gelegen, stand die moderne Villa der Unternehmerfamilie Wolff, deren Vorfahren im frühen 19. Jahrhundert, das Werk gegründet hatten. Um 1830 bis etwa 1870, als die industrielle Produktion einsetzte, gab es hier entlang der B., einem Nebenfluss der Böhme, lediglich ein paar Pulvermühlen, die Schwarzpulver produzierten und nach und nach in die Luft geflogen waren, aber dennoch die Keimzellen für den späteren Chemiekonzern wurden. Außer einigen Fundament-Resten war von ihnen nichts übrig geblieben. Wir hatten bei unseren Streifzügen durch die Gegend jedenfalls nichts weiter gefunden und ein Heimatmuseum mit anderen Überresten oder einer rekonstruierten Pulvermühle gab es nicht.

Das weitläufige Werk teilte sich in das Altwerk, einen neueren Werksteil auf dem Fuchsberg und einen weiteren Betriebsteil in Kibitzort auf. Daneben gab es Schießbahnen, Pulver- und Munitionslager, ein werkseigenes Sägewerk an der oberen B. und einige Schmalspurbahnen in den Wäldern, die zwischen den Werkteilen hin und her fuhren und wie die Elektrokarren in der EIBIA von Batterien angetrieben wurden. Mit ihnen wollte man durch Funkenflug verursachte Explosionen vermeiden. Damit hatte man, durch viele Unglücke vorsichtig geworden, große Erfahrungen. An besondere Sicherheitshinweise kann ich mich außer an „Vorsicht! Hochspannung. Lebensgefahr!“, „Betreten der Gleise verboten!“, „Öffentlicher Luftschutzraum!“ und „Feind hört mit!“ allerdings nicht erinnern. Es passierten jedoch viele Zwischenfälle, die auch einmal Tote forderten und eine Teilevakuierung des Dorfes erforderlich machten. Man lebte gefährlich und nahm es hin. Bomben fielen aber glücklicherweise nicht! Bis heute ist nicht klar, warum, denn es existieren Luftaufnahmen der Alliierten von der EIBIA!

 

Im Ort gab es neben den schon erwähnten Anlagen und Gebäuden ein zweigiebeliges über eine Auffahrt erreichbares „Wohlfahrtshaus“ mit der Gemeindeverwaltung, einer Zahnarztpraxis und im Keller mehrere öffentliche Duschen für diejenigen Dorfbewohner, die wie wir, kein eigenes Bad hatten. Vor dem Gebäude stand im Zentrum des Dorfes ein Kriegerdenkmal für die im ersten Weltkrieg Gefallenen aus B. Es gab einen Schuster Otto Dehnbostel, mit dessen Söhnen Gerd und Walter ich befreundet war, und der ständig mit einer Lederschürze herumlief, einen Frisör, Albert Benien, einem angeblichen Lebemann, eine Fleischerei, die der Ortsgruppenleiter D. befehligte, die Tischlerei Walter Helberg mit den Särgen im Fenster, eine Landjägerei (Polizeistation) mit einem ziemlich dicken Polizisten, das Kolonialwarengeschäft Georg Wülfrath, das die Post als Untermieter beherbergte, eine Fahrradhandlung mit eigener Werkstatt Hermann Bergmann, der einzige Laden am Ort mit einem größeren Schaufenster und dem schwulen Herbert als Lehrling, was aber erst herauskam, als das Großdeutsche Reich untergegangen war, einen Schneider in seiner umfunktionierten Wohnstube, den gut aussehenden Maler Werner Oehlerking, den Bäcker Sigismund Dux mit seiner Tochter, der blonden Anne, die geistig behinderte Tochter des späteren Bürgermeisters Hermann Wöhlert, Waltraut, Fräulein Wehrs, die Fotografin, den SA-Mann Heinrich Brockmann, Leiter des Konsums, Haustyrann und Vater meines Freundes Jürgen und natürlich der Pulverkrug, die Dorfkneipe von Peter Hagel, in der die „Suffköppe“ saßen, wie meine Mutter sich ausdrückte. Mein Vater blieb dort nach dem Kino allerdings auch gelegentlich hängen. Er schaffte es aber trotzdem, die Standfotos und Plakate für den nächsten Film in dem dreiflügeligen Kinokasten an der alten Fabrikmauer neben dem Hauptpförtner exakt auszurichten und mit Reiszwecken anzupinnen. In unserer Nachbarschaft waren noch Oskar Hecht, der eines Tages betrunken in einen Kabelgraben fiel und ertrank, die Witwe "Wally" Olschewsky, die in unserer Reihenhaushälfte unten wohnte, Kurt Zey, mein Faktotum von nebenan, mit dem ich regelmäßig Streifzüge durch die Umgebung unternahm und alles abmontierte, was nicht niet und nagelfest war sowie die "alte Meyersche", die wie eine Hexe aussah und auch für eine solche gehalten wurde. Jedenfalls bei meiner Großmutter, die sich im Kino nicht neben sie setzen wollte und es dann doch tat, weil sie fürchtete, von ihr verhext zu werden. Nur die Bonbons, die ihr die vermeintliche Hexe während der Vorstellung gab, ließ sie unter ihren Stuhl fallen, während sie so tat, als ob sie daran kaute. Ach ja, die Herren B. und H. sollte ich noch erwähnen, die dafür sorgten, dass mein kaisertreuer Vater wie alle übrigen Volksgenossen den Deutschen Gruß "Heil, Hitler!" korrekt ausführten und nach Kriegsende die ersten waren, die aus B. verschwanden. Ihre wahre, politische Funktion wurde mir erst später klar: Sie waren für die Bespitzelung der Werktätigen zuständig.

Was es in unserem Dorf nicht gab, waren eine Kirche, eine Buchhandlung und ein Krankenhaus. Zu beten, zu lesen oder krank zu sein: dafür blieb den Volksgenossen wohl keine Zeit mehr.

 

Das Leben im Dorf lief nach einem festgelegten Stundenplan ab, den eine mit Dampf betriebene Pfeife auf dem Nitrierhaus des Werkes vorgab. Um sieben Uhr morgens heulte sie zum ersten Mal und rief zum „Dienst“, dann wieder um zwölf Uhr zur Mittagspause bzw. an deren Ende um ein Uhr und schließlich zu Werkschluss um vier Uhr. Vor Feierabend waren die meisten Einwohner von B. unsichtbar. Auch meine Eltern gehörten dazu, denn Mittagsessen gab es erst abends und nur gelegentlich im Hindenburg-Saal, der Gemeinschaftsküche des Werkes, zu der die Belegschaft in der Mittagspause im Gänsemarsch pilgerte und neben dem mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Führerbild Platz nahm und speiste. In der Freizeit spielten die Arbeiter Fußball und die Angestellten Tennis, wir Kinder sahen zu und träumten von Speiseeis, Salmiakpastillen und Süßigkeiten aller Art. Sie waren nicht einmal rationiert wie die Lebensmittel, es gab sie einfach. Dafür gab es jede Menge Fliegeralarm, den eine Sirene, von einem hohen Stahlgerüst neben dem Hindenburg-Saal ankündigte. Ihr auf- und abschwellender Jaulton trieb uns meist nachts aus den Betten in die Luftschutzkeller. Meine schlimmsten Erinnerungen habe ich stattdessen an die „Nationalsozialistische Hochburg und vormilitärische Erziehungsanstalt“ meiner zeitweiligen Pflegeeltern, Georg und Mariechen Staschen: Ein mächtiges Mehrfamilienhaus, das nur von ihnen bewohnt wurde, einem kinderlosen Ehepaar, bei denen mein Vater einmal als Junggeselle gewohnt hatte.

 

Für uns Kinder war das ewig gleiche Dorfleben nur wegen der Geheimhal-tungsmaßnahmen um uns herum interessant. Auf den Feldern wuchsen Getreide und Kartoffeln, manchmal auch Lupinen. Dort war nichts los. Es gab reichlich Kornblumen und Klatschmohn sowie Kartoffel- und Maikäfer, die uns nicht interessierten. Es war die Zeit des Höhlenbaus am Boden und auf den Bäumen. Jeder hatte sich eine solche Unterkunft eingerichtet. Ich trieb mich darum nach dem Unterricht in der Volksschule, die aus drei braunen Holzbaracken bestand und schon einmal abgebrannt war, meist in den umliegenden Wäldern herum, die fast bis an die Haustür reichten. Dort gab es einen Wasserturm, den man besteigen konnte, ausgediente Personenwagen der Werkbahn, die ohne Räder neben einem Abstellgleis standen und Ersatzteile enthielten, ein großes Lager mit gepressten Zellstoffpappen aus Baumwoll-Linters, gelbe Sandkuhlen zum Spielen und manches andere mehr. Außerdem grenzte der Wald meist an den hohen, von massiven Betonpfählen gehaltenen und im oberen Teil mit Stacheldraht gesicherten Zaun der EIBIA, der größten Herausforderung für uns Jungen: Hinter das Geheimnis dieser Industrieanlage zu kommen, die sich dahinter verbarg. Das war schwierig und erforderte viel Lauferei und Kombinationsvermögen: doch es gab einige Anhaltspunkte, die uns schließlich auf die richtige Spur brachten. Diese spannende Spionagegeschichte gehört leider nicht hierher und darum erzähle ich sie Ihnen ein anderes Mal. Hier bleibt noch nachzutragen, dass mein Vater nach der Befreiung von B. durch die Engländer schon nach kurzer Pause wieder Kino machen musste. Jetzt waren es Kriegsfilme, Abenteuerfilme und Western, bei denen viel geraucht wurde und wir die Zigarettenkippen nach der Vorstellung aufsammelten und zu Hause über dem Ofen zu Tabak zerbröselten und trockneten. Dieser „Tabak“ wurde beim Bauern gegen Milch, Butter, Eier und Brot eingetauscht. Eine Zigarette kostete nämlich fünf Reichsmark! Die „Deutsche Wochenschau“ wurde durch Absingen der englischen Nationalhymne und die darauf folgenden „News“ abgelöst, das Hitlerbild und die Hakenkreuzfahnen sowie die hellbraunen Uniformen der Nazis verschwanden und uns Kinder bewarf man nach dem Essen mit Apfelsinen. Es begann eine herrliche Zeit. Die Dampfpfeife im Werk und die elektrische Sirene am Hindenburg-Platz ertönten nicht mehr und jeder hatte plötzlich einen englischen Freund und fing an, mit ihm holpriges Englisch zu sprechen, zum ersten Mal in seinem Leben Schokolade zu essen, Lebensmittel gegen Zigaretten und Tabak zu tauschen und … eines Tages betraten wir die geheimnisvolle EIBIA!

 

Nach meinem Rundgang durch B. merke ich, wie lebendig meine Kindheits-erinnerungen noch in mir sind. Sie haben ihren Einfluss nicht verloren und wirken weiterhin in mein Leben hinein. Obgleich sich die Orte verändert und die Menschen gegangen sind und ihre Zeit mit sich genommen haben, gibt es die Bilder immer noch. Jeder kennt sie aus seiner Kindheit, erzählt sie weiter und lebt mit ihnen. So auch ich, obgleich der Tennisplatz jetzt ein Park- und Wendeplatz für Busse ist und der Sportplatz und die Badeanstalt zu einer Parkanlage zusammengelegt wurden. Man ersetzte sie durch eine neue Tennis- und Sportanlage und ein modernes Freibad, das jetzt auf dem ehemaligen EIBIA-Gelände liegt. Der Hindenburg-Saal wurde abgerissen und die Volksschule ist längst einem steinernen Neubau gewichen, der auf einer Müllhalde steht. Das Kriegerdenkmal wurde aus der Dorfmitte entfernt und nicht wieder aufgestellt, und wo seinerzeit das „Schlageter-Denkmal“, ein hässlicher, würfelförmiger Betonklotz stand, steht heute das neue Gemeindehaus. Rathaus mag immer noch keiner sagen, denn B. ist ein Dorf geblieben, auch wenn es jetzt eine Kirche und eine Bibliothek hat. Ich bleibe noch eine Weile auf der Bank neben unserem ehemaligen Hauseingang sitzen, durch den ich so viele Male ein- und ausgegangen bin, schaue hinunter in die von außen über eine Doppeltreppe zugängliche Waschküche, wo meine Mutter an festgelegten Tagen in einem dampfenden Kupferkessel unsere Wäsche wusch, gehe schließlich durch den Torbogen auf die andere Seite des Reihenhauses zum Auto und fahre zur Autobahn zurück. Bald wird auch mit mir ein Teil dieser Vergangenheit für immer verloren sein.

 

Nachtrag zur EIBIA

 

Die EIBIA beschäftigte mich auch während der Studienzeit, denn ich bewarb mich in den Semesterferien als Werkstudent in B. Ich kam zunächst in ein Labor am Rande des Altwerks auf dem Fuchsberg, in dem für den Betriebsteil „Collodium“ Analysen der hier in großem Maßstab produzierten „Collodium-Wolle“ durchgeführt wurden, die zu Lacken, insbesondere zu Autolacken, verarbeitet wurde. Aus diesem Produkt „Schießbaumwolle“ herzustellen, war chemie-technisch nur ein kleiner Schritt, und ich verstand alsbald den Zusammenhang mit dem in der EIBIA seinerzeit hergestellten NC-Pulver auf der Basis von Zellulose (Baumwoll-Linters), Schwefel- und Salpetersäure, die als Rohstoffe dafür benötigt wurden.

Collodium-Wolle wurde in verzinkten Stahlfässern feucht gelagert und verschickt und war ihrerseits explosiv, wenn sie zu trocken wurde. Es gab mehrere Unglücke in B., bei denen Collodium-Fässer explodiert waren, und ich sah einmal bei einer Explosion die schweren Deckel der Fässer vom Bahnhof aus durch die Luft fliegen.

 

Die EIBIA war zuletzt die größte Pulverfabrik des Dritten Reiches mit zeitweise bis zu 8000 Beschäftigten, auf 385 ha Waldfläche und 273 als Stahlbeton-Skelette errichteten Gebäuden, die bei einer Explosion stehen blieben und nach Erneuerung der Außenwände wiederverwendet werden konnten. Sie hatte ein Straßen- und Schienennetz von je 20 km Länge und eine eigene Wasser- und Stromversorgung durch Brunnen und zwei Kohlekraftwerke. Das mehrfach als „Bestbetrieb“ vom Oberkommando des Heeres in Berlin ausgezeichnete Werk stoppte erst am Vormittag des 16. April 1945 unter Volllast laufend seine Produktion an hochexplo-siven Nitroglyzerin (NG-Pulver) und Nitrozellulose (NC-Pulver)! Am Nachmittag nahmen die Engländer Bomlitz und die Industrieanlagen von Wolff & Co und von der EIBIA kampflos ein.

 

Die EIBIA hat wesentlich zur Verlängerung des Krieges beigetragen und nach dem Krieg bei der Demontage und Sprengung durch die Engländer weitere Todesopfer gefordert. Ich habe das alles erst richtig begriffen und im Einzelnen verstanden, nachdem ich Chemie studiert hatte und das Gelände ab 1995 von der Gemeinde B. als Naherholungsgebiet für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. Wer hätte in der Umgebung von B., eines so kleinen und unauffälligen Dorfes in der Lüneburger Heide, eine Industrieanlage solchen Ausmaßes und von solcher Bedeutung vermutet?

 

Einen kleinen Teil des Werkes habe ich Ende der vierziger Jahre unversehrt gesehen und war vor allem von einem verlassenen chemischen Laboratorium und seinen vielen fremdartigen Apparaturen, Gerätschaften und Gerüchen beeindruckt. Darauf war ich zufällig gestoßen, als ich an einer Stelle unter dem jetzt nicht mehr ganz so scharf bewachten Zaun hindurch gekrochen war, das nächstgelegene Gebäude betrat und unverhofft vor einer neuen Welt aus Glas und nie gesehenen Pulvern, Flüssigkeiten und Chemikalien stand. Dass ich mich damals in Lebens-gefahr befand, war mir nicht bewusst; doch zum Glück staunte ich nur, blieb in der Tür stehen, traute mich nicht hinein, fasste nichts an und verschwand kurz darauf wieder unter dem Zaun aus Angst, entdeckt zu werden. Erzählt habe ich niemandem etwas davon, auch meine Eltern haben von diesem gefährlichen Abstecher in die Welt der Chemie nichts erfahren. Er blieb mein Geheimnis. Nur meine Berufswahl, über die sich alle wunderten und den Kopf schüttelten, wurde von dieser „Geheimen Reichssache EIBIA“ später beeinflusst und hätte sie stutzig machen sollen – doch keiner wollte den Grund für meine frühe Entscheidung, Chemiker zu werden, wirklich wissen. Ich hatte einen kurzen Blick in eine mir fremde, geheimnisvolle Welt getan, die mich sogleich faszinierte und nicht mehr losließ, und so bin ich den prickelnden Geheimnissen dieser Wissenschaft bis heute treu geblieben und immer noch auf ihrer Spur.