Das Veilchen

Eine Episode aus dem Leben des Wolfgang Amadé Mozart 

 

 

Auch das Jahr 1785 hatte für Mozart nicht weniger turbulent begonnen als das Jahr zuvor. Er hatte sich längst einen Namen als Komponist und Pianist gemacht und war nicht nur zu musikalischen Anlässen überall in Wien gern gesehen. Schon seit vier Jahren war er jetzt hier ansässig, in dieser für ihn attraktiven Stadt, seinem „Clavierland“, hatte Constanze Weber, die jüngere Schwester seiner Mannheimer Jugendliebe Aloysia geheiratet und sich als Musiker durchgesetzt. Mozart war in Wien zum Publikumsliebling avanciert und konzertierte in allen wichtigen Häusern des Adels und des Bürgertums. Allein 14 Akademien absolvierte er innerhalb von acht Wochen, darunter sechs Subskriptionskonzerte auf der Mehlgrube am Neuen Markt, bei denen er wieder wie im Vorjahr als Solist mit eigenen Werken, vorwiegend Klavierkonzerte, aufgetreten war. Da Mozart nur auf seinem eigenen Klavier spielte, musste das Instrument (eine Sonderanfertigung des führenden Wiener Klavierbauers Anton Walter mit doppeltem Resonanzboden und einem „erstaunlich schweren“ Pedaluntersatz) entsprechend oft außer Haus getragen werden. Hinzu kamen sechs Streichquartette für seinen Freund Joseph Haydn, die ihm in den letzten 3 Jahren alles abverlangt hatten, was er an kompositorischem Können bis dahin aufzubieten hatte. Auch die Anfang des Jahres in der Tonkünstlersozietät aufgeführte Kantate „Davidde penitente“ (Der bußfertige David) hatte ihm einige Arbeit gemacht, denn er musste unter Zeitnot dafür zwei Arien und eine Kadenz neu komponieren und das Kyrie und Gloria seiner unvollendeten c-moll-Messe dafür umarbeiten. Außerdem folgte er einigen Einladungen zu Ausflügen, Abendgesellschaften und privaten Akademien. Alles in allem ein eng beschriebener Terminkalender seit Beginn des neuen Jahres. Er war fest eingebunden in die Wiener Gesellschaft und hatte diverse Verdienstmöglichkeiten bei Adel und Bürgertum.

 

Mozart liebte diesen Trubel, er brauchte ihn zum Komponieren. Unter Anspannung und Termindruck lief er zu Höchstleistungen auf. Es war, als ob er erst unter diesen Bedingungen seine künstlerischen Fähigkeiten voll entfalten konnte.

 

Dann, Anfang Februar, bei eisiger Kälte und Schnee, war noch der Besuch seines Vaters hinzugekommen. Leopold blieb fast zweieinhalb Monate, musste täglich umsorgt und unterhalten werden, bis ihm das ungewohnt hektische Leben seines Sohnes zu anstrengend wurde. Da ging es in Salzburg doch sehr viel ruhiger zu. Immerhin hatte er den Eindruck gewonnen, dass Wolfgang ein angesehener Bürger und geschätzter Komponist war, der ein offenes Haus führte und in ökonomisch geordneten Verhältnissen lebte. Er hatte miterlebt, wie der Kaiser ihm öffentlich Beifall zollte und Haydn seine musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten in höchsten Tönen lobte.

Wolfgang und Konstanze begleiteten ihn noch bis Purkersdorf an die Stadtgrenze und Leopold kehrte etwas mitgenommen aber zufrieden über München nach Salzburg zurück. Er wusste, dass er dort fortan allein und zurückgezogen, ohne Einfluss auf seinen Sohn und die weiteren Geschehnisse in Wien vereinsamen würde. Wolfgang hatte sich endgültig von ihm, von Salzburg und dem Fürstbischof abgelöst und auf eigene Füße gestellt und ihr Verhältnis hatte sich seitdem merklich abgekühlt. Zu Constanze und ihrer Familie, den „Weberischen“, war er von Anfang an auf Distanz gegangen.

 

Nach der Abreise des Vaters hatte Mozart nur noch ein paar Lieder und eine Fantasie für Klavier geschrieben und entspannte sich jetzt gegen Ende der Konzertsaison beim Billardspiel in der „Goldenen Schlange“. Dieses stadtbekannte Gasthaus in der Kärntner Straße Nr. 1074, das mit seinem rückwärtigen Teil an den Neuen Markt grenzte, gehörte zu seinen Stammlokalen. An diesem Abend, dem 8. Juni 1785, waren nur wenige Gäste im Haus. Der größte Teil des Adels war jetzt am Anfang der Sommersaison bereits auf seinen Landsitzen in der Umgebung Wiens oder in Ungarn, Böhmen oder Mähren. Mozart hielt sich im Billardzimmer im oberen Stock auf, trank einen schwarzen Kaffee, den ihm Deiner gebracht hatte und zog an seiner Pfeife. Mit Joseph Preisinger, dem Wirt, und Joseph Deiner, dem Hausmeister und Kellner der „Goldenen Schlange“, war er persönlich bekannt. Deiner hatte ihn schon oft zu Haus in der großen Schulerstrasse aufgesucht und war ihm dort bei verschiedenen täglichen Dingen zur Hand gegangen. Hier, unmittelbar hinter dem Stephansdom, hatte Mozart im vergangenen Herbst für 480 Gulden Jahresmiete eine große, herrschaftliche Wohnung im ersten Stock des Hauses Nr. 845 bezogen, das den Nachkommen des Hofstuckateurs Alberto Camesina gehörte.

Dieser, auch für eine Wiener Wohnung hohe Mietzins, entsprach ziemlich genau Mozarts Jahresgehalt als Hoforganist in den Diensten des verhassten Erzbischofs Hieronymus Graf Colloredo in Salzburg. Mozart verdiente zu dieser Zeit genug, um sich die Wohnung leisten zu können. Er hatte neben den Einkünften aus seinen Konzerten weitere Einnahmen aus dem Klavierunterricht von einigen prominenten Schülerinnen, aus dem Verkauf einiger Kompositionen sowie aus den Auftritten als Klaviervirtuose in privaten Konzerten vor Kennern und Liebhabern des Adels und zunehmend auch des Bürgertums. So kamen für seine kleine Familie im Jahr mindestens 2500 Gulden zusammen. Ein stattliches Einkommen für einen Musiker in der damaligen Zeit, mit dem es sich schon für den dritten Teil in Wien gut wohnen und leben ließ.

 

Mozart, mit dem Queue in der Hand, war gerade mit Emanuel Schikaneder, dem Theaterdirektor und Logenbruder und Joseph Leutgeb, dem befreundeten Hornisten, im Gespräch, als ein livrierter Diener das Billardzimmer betrat und zielstrebig auf ihn zuging.

Man hatte ihm Mozart als klein, hager, von bleicher Gesichtsfarbe dabei aber sehr tempera-mentvoll und nach der neuesten Mode wie ein Angehöriger der Oberschicht gekleidet beschrieben. Gewöhnlich trug er einen roten oder blauen reich bestickten und mit Atlas-Seide gefütterten Rock mit Stehkragen, der mit Perlmuttknöpfen besetzt war. Darunter trug er eine Weste aus himmelblauer Seide. Die Ärmel des Rocks liefen in weißen, spitzenbesetzten Manschetten aus. Um den Hals trug er ein weißes Halsbindel und sein üppiges blondes Haar war hinten mit einem Bandel zusammengebunden und musste wie auch seine Perücke von einem Coiffeur regelmäßig gepflegt werden. Auch die Strümpfe waren aus Seide und die Schuhe mit kostbaren Schnallen besetzt. Er hatte eine gerade, hohe Stirn und ein rundes Gesicht, aus dem die blauen Augen und eine lange, breite Nase hervortraten. Abgesehen von seiner extravaganten, in grellen Farben und mit goldenen Borden versehenen Kleidung, unterschied sich Mozart nicht von seinen Musikerkollegen und den gewöhnlichen Bürgern auf der Straße; er selbst war eher unauffällig und unattraktiv, aber in Wien eine Berühmtheit, den der eintretende Diener auch ohne nähere Beschreibung wiedererkannt hätte.

 

Der nach ihm ausgeschickte Diener erinnerte Mozart an eine Einladung im Hause des Hofrats auf dessen Privatakademie zusammen mit der Frau des Hauses ein neues Lied vorzutragen. Franz Bernhard Ritter von Keeß, der den Titel eines Hofrats führte und mit Haydn befreundet war, war Jurist und am niederösterreichischen Appellationsgericht in Wien als Regierungsrat und Kanzlei-Direktor angestellt. Er betätigte sich als Sammler von Musikalien, als Mäzen und Musikliebhaber und zählte zu den regelmäßigen Abonnenten seiner Subskriptionskonzerte an allen Plätzen der Stadt, im städtischen Kasino auf der Mehlgrube, im Trattnerhof, im Augarten und im Burgtheater.

 

Mozart, der den Besuchstermin und das Lied vergessen hatte, rief nach Deiner, der ihm einige Blätter des zwölfzeiligen Notenpapiers brachte, das er für ihn immer bereithielt. Diesmal reichte eins der teuren Blätter. Mozart beugte sich über den Billardtisch, schob die drei Kugeln beiseite und fing auf dem grünen Filz an, zu schreiben, nachdem ihm Deiner auch Feder, Tinte und Streusandbüchse gereicht hatte. Während er mit der rechten Hand schrieb, bewegte sich die linke auf dem Rand des Billardtisches, als ob sie die rechte wie auf dem Klavier begleiten würde. Wegen seiner feinen Hände wurde er bei Konzerten bewundert und mancher Besucher stellte sich neben ihn, um ihm beim Spielen zuzusehen. Deiner, der musikalisch nicht ungebildet war, sah die Gesangsstimme einer Arie oder eines Liedes auf dem Notenblatt entstehen. Er hatte den Eindruck, dass Mozart wie so oft, die Komposition in seinem Kopf bereits fertiggestellt hatte und sie jetzt, ohne aufzublicken oder innezuhalten als lästige Pflicht und offenbar rein mechanisch aus dem Gedächtnis niederschrieb. Auch der Diener staunte nicht schlecht, in welchem Tempo Mozart das versprochene Stück zu Papier brachte und nun zum Aufbruch drängte. Für jemanden wie Mozart, der „den ganzen Tag mit Musik umging“ und sozusagen „in der Musik steckte“, war es weniger erstaunlich. Er hatte die Fertigstellung von Kompositionen schon oft auf den letzten Moment hinausgeschoben.

 

Mozart nahm seinen Dreispitz und eilte mit dem livrierten Diener und dem „Hals über Kopf“ komponierten Lied von der Kärntner Straße in die schräg gegenüberliegende Himmelpfortgasse und von dort durch die Rauhenstein- und Ballgasse zum Franziskanerplatz. In dem  Haus Nr. 943 des Barons Christian von Stegner wohnte die Familie von Keeß und hielt hier ihre wöchentlichen Abendmusiken ab.

 

Der vergangene Winter war ungewöhnlich hart und lang gewesen. Es hatte Ende April noch geschneit und erst jetzt, Anfang Juni, wurde es milder. Das Hochwasser war zurückgegangen und es gab einige sehr schöne Tage in Folge. Der Himmel war auch heute wolkenlos und das Thermometer kletterte auf über 20 Grad. Der sonst so lästige Wind und der Staub auf den Gassen hatten sich gelegt. Trotzdem war an diesem Abend, mitten in der Woche, nur wenig Verkehr auf den Gassen, sodass die beiden schnell vorankamen.

 

Mozart, mit dem noch feuchten Notenblatt in der Hand, und der Lakai betraten die Gewölbe im Parterre des Hauses, wo Pferde und Kutschen untergestellt waren, und begaben sich über eine schwungvolle Treppe ins erste Stockwerk zum Salon des Hauses, wo man sie seit einiger Zeit sehnsüchtig auf der Soiree erwartete.

 

Gewöhnlich liefen diese privaten Musikabende so ab, dass an Anfang und Ende jeweils eine neue Sinfonie aufgeführt wurde. Es kam auch häufig vor, dass die vier Sätze einer Sinfonie dafür aufgeteilt wurden. Dazwischen wurden Arien und Lieder, zum Teil von namhaften Sängern und Sängerinnen sowie Kammermusik bis hin zu ausgewählten Solokonzerten vorgetragen. Dazu wurden die Solisten und Instrumentalisten meist aus den Privatorchestern des Adels ausgeliehen. Alle Musiker und Dilettanten waren in der Lage, prima vista, d. h. vom Blatt weg zu spielen, sodass längere Probezeiten entfielen und die Entlohnung der Künstler entsprechend niedrig war. Es gehörte zu den Status-Symbolen des Geld- und Standesadels sowie des gehobenen Bürgertums, selbst zu musizieren und eigene Musiken zu veranstalten.

Der Reiz dieser Akademien lag in der Vielfalt ihres Angebots, das ständig neu zusammen-gestellt wurde und deshalb für die Zuhörer abwechslungsreich und interessant blieb. Auch die Musik folgte dieser vielfältigen Nachfrage und zielte auf Überraschungen ab, die allzu oft auch in bloßen Effekten bestanden. Bei Mozart kam hinzu, dass seine ihm eigene Originalität zu einer besonderen Art der musikalischen Gestaltung und des Ausdrucks führte, die, solange er nicht für „lange Ohren“ spielen musste, die Zuhörer in Entzücken versetzte. Selbst der Kaiser ließ sich öffentlich zu einem „Bravo, Mozart!“ hinreißen, wobei es wohl weniger um die Qualität als um die Leichtigkeit und Lebendigkeit seiner Musik, das Fugenspiel und sein Improvisationstalent ging. In der Regel dauerte ein Konzert mit Pausen für Buffet und Konversation vier Stunden und länger.

 

Ende des 1. Teils.

 

 

Mozart betrat den von einigen Hundert Kerzen hell erleuchteten und gut besuchten Musiksaal und zog sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, denn alle erwarteten ihn und freuten sich auf das angekündigte neue Lied. Die einleitende Sinfonie des jungen Adalbert Gyrowetz, der kürzlich aus Böhmen in Wien eingetroffen war, war bereits verklungen und eine Pause im Programmablauf entstanden.

Mozart nutzte sie, um den Hofrat von Keeß und seine Gemahlin zu begrüßen, der er hastig das Notenblatt mit der Singstimme des neu komponierten Liedes überreichte.

Bevor sie einen Blick darauf warf, tadelte sie ihn freundschaftlich wegen des Ausbleibens, woraufhin sich Mozart eilig und verlegen entschuldigte.

Nach der Begrüßung einiger Kollegen, darunter Joseph Haydn, Karl Ditters von Dittersdorf und Johann Baptist Vanhal, seine Streichquartett-Partner, sowie Franz Anton Hoffmeister, den Komponisten und Musikverleger, den Hoforganisten Johann Georg Albrechtsberger, den Virtuosen Giovanni Giornovichi, der mit einem eigenen Violinkonzert auf dem Programm stand und vieler anderer,  gab er der Frau des Hauses einige Anweisungen zum Vortrag des Liedes. Sie überflog dabei Noten und Text und fragte dann nach dem Klavierpart. Mozart gab zu verstehen, dass er alles fertig im Kopf hätte und sie frei begleiten würde.  

Frau von Keeß, die eine ausgebildete Sängerin war, und bei solchen Gelegenheiten schon öfter in Erscheinung getreten war, sah sich das Notenblatt jetzt genauer an und las den Text, den Mozart der Singstimme unterlegt hatte:

 

 

     Das Veilchen

 

Ein Veilchen auf der Wiese stand

gebückt in sich und unbekannt;

es war ein herzig's Veilchen.

Da kam eine junge Schäferin,

mit leichtem Schritt und muntern Sinn,

daher, daher,

die Wiese her, und sang.

 

"Ach!" denkt das Veilchen, "wär' ich nur

die schönste Blume der Natur,

ach, nur ein kleines Weilchen,

bis mich das Liebchen abgepflückt

und an dem Busen matt gedrückt!

Ach nur, ach nur

ein Viertelstündchen lang!"

 

Ach! aber ach! das Mädchen kam

und nicht in acht das Veilchen nahm,

ertrat das arme Veilchen.

Es sank und starb und freut' sich noch:

"Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch

durch sie, durch sie,

zu ihren Füßen doch."

 

Das arme Veilchen!

Es war ein herzig‘s Veilchen.

 

 

Sie erinnerte sich an das Gedicht von Goethe, das aus einem Singspiel stammte und durch die Vertonung von Johann Friedrich Reichardt vor zwei Jahren allgemein bekannt wurde, als er sich für einige Wochen in Wien aufhielt.

Mozart hatte den Text durchkomponiert und in eine spannende musikdramatische Szene verwandelt. In den 64 Takten seines Liedes lagen Gefühle von Freude, Liebe, Sehnsucht und Abschied auf engstem Raum beieinander und verfehlten ihre Wirkung nicht, als Frau von Keeß mit leicht zitternder Stimme, aber fehlerfrei und mit viel Empfindung das Lied vortrug. Mozarts überragendes Talent, Gefühle in Musik auszudrücken und zu dramatisieren, kam in diesem Lied wieder einmal voll zur Geltung.

 

Nach einem kurzen Moment des Schweigens brachen Jubel und Begeisterung los, was selbst den von seinem Wiener Konzertpublikum verwöhnten Mozart überraschte.

Alle hatten bemerkt, dass er ohne Noten zum Klavier gegangen war und die Begleitung aus dem Gedächtnis gespielt, wenn nicht gar im Augenblick des Vortrags improvisiert hatte.

Mozart strahlte. In diesem Kreis fühlte er sich angenommen. Er brauchte Zuhörer, die ihn verstanden und mit ihm empfanden, um Freude am Musizieren zu haben. Der Beifall für ihn und Karolina von Keeß, der Frau des Hauses, wollte nicht enden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Lied so enthusiastisch aufgenommen und beklatscht werden würde. Es musste wiederholt werden. Er war in diesem Augenblick mit seiner Musik und seinem Publikum glücklich.

Nur eine Oper konnte sein Hochgefühl noch steigern und er hatte auch schon eine Vorstellung davon, wie sie aussehen sollte. Er war seit Kurzem mit Lorenzo da Ponte, dem Theaterdichter des Kaisers, über die Einrichtung eines aktuellen Theaterstücks für ein Opernlibretto im Gespräch. Noch in diesem Jahr sollte die Arbeit beginnen. Endlich! Aber anders als Antonio Salieri, dem amtierenden Hofkapellmeister, der gerade wieder eröffneten italienischen Oper und all den anderen etablierten meist „welschen“ Opernkomponisten in Wien, die für das vom Kaiser und dem Adel favorisierte Burgtheater, die Hofoper, schrieben, war Mozart als freischaffender Künstler auf gut bezahlte Aufträge oder andere lukrative Verdienstmöglichkeiten angewiesen;  einen Anlass zur Komposition brauchte er allemal. Da Ponte und er würden versuchen, beim Kaiser eine Aufführungsgenehmigung für das Stück zu erreichen, für das bisher kein Auftrag vorlag, und dabei vertraute Mozart ganz auf da Pontes Geschick, den rechten Augenblick dafür abzupassen.  

 

Mit der Darbietung des „Veilchens“ war der Höhepunkt des Abends überschritten.

 

Zum Abschluss des Konzertes erklang eine Sinfonie von Josef Myslivecek, der Anfang des Jahres in Rom an den Folgen einer Syphilis starb. Mozart war mit ihm befreundet und schätzte seine Musik und erinnerte sich jetzt, ihn vor Jahren in München im Herzogsspital besucht zu haben. Myslivecek, wie Gyrowetz aus Böhmen stammend, war in Italien zum gefeierten Opernkomponisten aufgestiegen. Man nannte ihn dort aus Verehrung und seines unaussprechlichen Namens wegen „Il divino boemo“, der göttliche Böhme.

 

Danach löste sich die Abendgesellschaft auf und der Saal leerte sich.

 

Mozart verließ das Haus des Barons von Stegner, in dem er schon oft konzertiert hatte und im Salon der Familie von Keeß ein gern gesehener Gast war.

Aus den Fenstern im ersten Stock fiel der Lichtschein der Kerzen auf das Kopfsteinpflaster vor den wartenden Kutschen und Mietdroschken, die jetzt die Gäste und die Orchestermusiker aufnahmen und nach Hause fuhren.  

Mozart verabschiedete sich von Haydn, Dittersdorf und Vanhal, den Musikerkollegen und Freunden, und ging durch die schmale Gasse „Am grünen Anger“ nach Haus. Es war wie immer spät geworden.

Die Öllaternen der Straßenbeleuchtung waren bereits ausgelöscht und die Laterndler, die Trinker und Betrunkenen, sowie „die gutwilligen Mädchen von der ärmeren Sorte“ von der Straße herunter. Der Heimweg lag, nur vom Mondlicht spärlich beschienen, wie ein dunkler Tunnel vor ihm. Stellenweise musste er aufpassen, wohin er trat. Über St. Stephan wölbte sich ein sternenklarer Himmel und es hatte sich merklich abgekühlt. Ihn fröstelte und er vermisste seinen gefütterten Überrock, den er den Winter über getragen und bereits weggehängt hatte.

 

„Für die Ehre war es wieder einmal herrlich … dachte er … aber in Betreff des Geldes mager ausgefallen.“

 

Doch Mozart verdiente zu dieser Zeit sehr gut, aber er lebte auf großem Fuß, neigte zur Freigiebigkeit und Verschwendung und konnte mit Geld nicht umgehen, „… es sprang ihm aus den Händen“, sodass es trotz beträchtlicher Einnahmen immer wieder zu finanziellen Engpässen kam. Rücklagen zu bilden, daran dachte er nicht. Sein Leben fand in der Gegenwart statt und er wollte es uneingeschränkt genießen. Über die Zukunft dachten er und Constanze nicht ernsthaft nach.

 

Als er in die kleine Schulerstraße einbog, um über den Hintereingang ins Treppenhaus des Camesina-Hauses und von dort in seine Wohnung zu gelangen, freute er sich darauf, Constanze, sein „liebstes, bestes Herzens-Weibchen“, in die Arme zu schließen. Ein warmes Glücksgefühl überkam ihn. Ohne sie konnte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen.

Er hatte an sie gedacht, an seine muntere Schäferin und Muse, als er das „Veilchen“ schrieb, und würde sich gleich an ihren Busen drücken lassen und einschlafen.

Am nächsten Morgen wollte er das „Veilchen“ in sein  neu angelegtes „Verzeichnis aller seiner Werke“ eintragen und mit seinem Stanzerl sofort über das neue Lied reden. Zum Beispiel über die Tonarten, den mit der Singstimme gleichgestellten Klavierpart und nicht zuletzt über die kleine Änderung, die er an Goethes Text vorgenommen hatte, um die Geschichte des sterbenden „Veilchens“ zu einem halbwegs versöhnlichen Ende zu bringen; denn vom Sterben glaubte er sich nach dieser für ihn bisher so glänzend und erfolgreich verlaufenen Saison noch weit entfernt -

 

 

Literatur: Braunbehrens, Volkmar: Mozart in Wien. Piper-Verlag GmbH, München 1986ff und Mozart. Ein Lebensbild. Serie Musik Piper-Schott, Bd. SP 8263, 1994. Braunbehrens, Volkmar und Jürgens, Karl-Heinz: Mozart. Lebensbilder. Gustav Lübbe Verlag. Bergisch Gladbach 2005. Landon, Robbins H.C.: Wolfgang Amadeus Mozart. Höhepunkte eines Künstlerlebens. Bassermann Verlag 2005. Gruber, Gernot. Wolfgang Amadeus Mozart. C.H. Beck Wissen, 2005. Beck’sche Reihe Nr. 2376. Gay, Peter: Mozart. Biographie. List Taschenbuch Nr. 60608, 2005. Hennenberg, Fritz: Wolfgang Amadeus Mozart. Rowohlt Taschenbuch Nr. 50683. Reinbek bei Hamburg, 2005. DIE ZEIT. Geschichte. Neue Erkenntnisse zum 250. Geburtstag. Bd. Nr. 4, 2005. Stegemann, Michael: Mozart. Für die Westentasche. Piper-Verlag GmbH, München 2006.

Die Noten und verschiedene Interpretationen des Liedes finden sich im Internet, z.B. unter: http://dme.mozarteum.at/DME/nma/nmaolrecs.php?vsep=89&p1=

26&idwnma=5584.

 

Ich danke Herrn Volkmar Braunbehrens, Freiburg/Breisgau, für die vielen Gespräche über Mozart und für die Durchsicht und Korrektur meines Textes. Ich hätte mir keinen besseren Begleiter und Berater auf dem Weg durch das Leben des Wolfgang Amadé Mozart wünschen können. Von Volkmar Braunbehrens stammt das bekannte Buch „Mozart in Wien“, das vor Jahren mein Mozart-Bild geprägt hat und mich bei der Abfassung dieser Erzählung veranlasste, mit dem Autor Kontakt aufzunehmen.

 

Manfred Burba, Einbeck, im April 2012

 

Die Erzählung wurde im April 2015 im Rahmen des "Berliner Literaturwettbewerbes 2015" von LITERATURPODIUM.DE mit dem 2. Preis ausgezeichnet und in dem Band "Sommerfrühstück" 2015 veröffentlicht.

 

Die ersten 26 Takte von Mozarts Veilchen (NMA III/8). Quelle: Int. Stiftung Mozarteum 2006.
Die ersten 26 Takte von Mozarts Veilchen (NMA III/8). Quelle: Int. Stiftung Mozarteum 2006.