Ende einer Freundschaft

Hieronymus Karl Friedrich Freiherr von Münchhausen und Gottfried August Bürger.

Eine Lügengeschichte.

 

Die Pferde hatten wie immer ihre Mühe, den abschüssigen Weg von den westlichen Ausläufern des Sollings mit ihren vielen Flachsfeldern zur Weser hinunter zu bewältigen. Jetzt, gegen Ende des Winters, war der Abstieg noch gefährlicher. Der Fährmann und seine Fähre warteten schon und nahmen Pferde und Kutsche auf, um sie nach Bodenwerder hinüber zu bringen. Das alte Fachwerkstädtchen lag auf einer Insel, einem Werder, und war infolgedessen von zwei Armen des Flusses umgeben, wovon der gegenüber liegende unterhalb der Stadt zwei Mühlen antrieb und deshalb der „Mühlengraben“ hieß und an seiner weitesten Stelle keine 70 Fuß breit war. Die Bevölkerung des kleinen Ortes lebte vom Flachsanbau und Leinenhandel sowie von Schifffahrt und Handwerk.

Gottfried wusste von vielen Besuchen, dass es von der Anlegestelle bis zum Gutshof seines Freundes nur noch ein kurzes Stück Weges war, den man auch gut zu Fuß gehen konnte, und machte sich sogleich zum Aussteigen bereit.

 

Die Reisekutsche hat das Tor zum Münchhausenschen Anwesen passiert und hält im Innenhof vor dem Herrenhaus unmittelbar an der ehemaligen Stadtmauer gelegen und wird von einem Bediensteten geöffnet. Auch Rösemeyer, der langjährige Leibjäger und Diener des Freiherrn ist sofort zur Stelle, um Gottfried mit dem Handgepäck behilflich zu sein.

 

 „Er wartet schon auf Sie und hat mir aufgetragen, Sie nach Ihrer Ankunft sogleich in sein Arbeitszimmer zu führen.“

„Was ist denn los, Rösemeyer? Er hat es doch sonst nicht so eilig. Da bleibt mir ja nicht einmal die Zeit, Ihm die beim letzten Mal versprochenen Würste aus Göttingen und das Fässchen Einbecker Bier zu überreichen.“

„Das hat Zeit bis später, gnädiger Herr. Er ist nervös und hatte gestern Besuch von einem Jagdfreund aus der Umgebung. Seitdem ist er aufgeregt und möchte, dass Sie sofort zu ihm hoch kommen.“

 

Das Gespräch findet auf der Freitreppe des Gutshauses statt und Rösemeyer eilt jetzt voraus, um die Eingangstür zu öffnen. Gottfried liest wie jedes Mal bei seiner Ankunft „Mine Borg ist God“, den Wahlspruch derer von Münchhausen unter dem Familienwappen über der Tür. Sie durchqueren die mit Sandsteinen ausgelegte Diele und gelangen über die an der Seitenwand befestigte Treppe aus dunklem Eichenholz und ein in halber Höhe angebrachtes Podest ins Obergeschoß. Nach ein paar weiteren Schritten zur Mitte hin, vorbei an Bibliothek und Kaminzimmer, stehen sie schließlich vor dem Arbeitszimmer des Freundes. Rösemeyer stellt die Reisetasche ab, klopft an und öffnet die Tür ohne dass aus dem Inneren des Raumes ein „Herein“ oder etwas derartiges zu hören gewesen wäre.

 „Herr Professor Bürger, Herr Baron!“

Nach dieser auffallend knappen und förmlichen Anmeldung entfernt sich Rösemeyer eilig mit dem Gepäck und Gottfried betritt ein wenig aufgeregt das Arbeitszimmer seines langjährigen Freundes Hieronymus mit den tragenden Eichenbalken unter der Decke.

Alles ist ihm hier vertraut: Die beiden nebeneinander hängenden Porträts von Hieronymus und seiner Gemahlin Jacobine, die kurz nach ihrer Übersiedlung nach Bodenwerder angefertigt wurden, die Sammlungen mit den Schnupftabaksdosen und Münzen, die Pistolen, Säbel und Gewehre, die vielen Jagdtrophäen und der massive Schreibtisch im Hintergrund. Etwas abseits, seit Jahren an der gleichen Stelle, stehen ein alter Lehnsessel und die englische Standuhr. Von den beiden Fenstern hinter dem Schreibtisch blickt man, durch den Mühlengraben getrennt, vom Gutshaus auf den gegenüber liegenden bewaldeten Hang, auf dem Hieronymus vor gut 20 Jahren einen mit Bäumen bestandenen Berggarten und sein schmales zweistöckiges Grottenhäuschen (den „Grottenpavillon“) errichten ließ. Hier feiert er nach beendeter Jagd mit seiner jeweiligen Jagdgesellschaft, meist adlige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, bis in die Nächte hinein und erzählt einem ausgewählten Freundeskreis „seine Geschichten“, die im Hannoverschen nicht nur im Adel die Runde machten und ihn als fabulierenden Gutsherren über Bodenwerder hinaus bekannt gemacht haben. Dort bewahrt er auch jene praktische, große Flüstertüte auf, mit deren Hilfe er bei Engpässen an Wein, Bier und Speisen zum Gutshaus hinunter ruft, um bei seiner Haushälterin Nachschub anzufordern, der dann umgehend durch einen ebenerdigen Mauerdurchbruch am rückwärtigen Teil des Gutshauses und über den Mühlengraben mit einem Boot von seinen Bediensteten angeliefert wird. Für eine Brücke über diesen Flussteil streitet er sich schon seit längerer Zeit mit dem Stadtrat, insbesondere mit dem Bürgermeister.

Wie oft hatte Gottfried diese Herrenabende und ihre Rituale schon miterlebt! Heute scheint es dem Freund darum allerdings nicht zu gehen und er ahnt langsam auch schon, warum.

 

Hieronymus, in der üblichen schlichten Trachtenkleidung eines Landwirts mit schwarzen Schaftstiefeln und grauem Lodenmantel löst sich von einem Buch auf dem Stehpult, das er hastig an sich nimmt und kommt nach kurzer Begrüßung gleich zur Sache.

„Ich hatte kürzlich Besuch von einem Jagdfreund aus Polle, der mir das hier (er wirft das Buch aufden Schreibtisch) aus Göttingen mitgebracht hat.“

Gottfried liest: „Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen …“

„Ich habe davon gehört, es ist letzte Woche herausgekommen und ist bereits ausverkauft“.

„Es ist ja wohl eine - eine bodenlose Frechheit, meine Geschichten ohne mein Wissen unter Verwendung meines vollen Namens und Titels zu drucken! Ich bin außer mir über so viel Dreistigkeit und Taktlosig-keit. Das gibt einen Skandal!“

Hieronymus holt Luft, sein Blick ist fest auf Gottfried gerichtet und auf seiner hohen Stirn zeichnen sich Zornesfalten ab.

„Meine Geschichten sind zum Erzählen gedacht; ohne den mündlichen Vortrag wirken sie wie aneinander gereihte Lügen, die zur Nachahmung anstiften. Man wird es missverstehen! Ich habe sie ja gerade erzählt, um die Aufschneider und Schwadroneure, von denen es nicht wenig in den Gesellschaften und Kneipen gibt mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen und in ihre Schranken zu verweisen.“

Hieronymus macht wiederum eine Atempause und Gottfried fühlt sich in seiner Haut nicht mehr ganz wohl.

„Bin ich vielleicht einer von diesen großspurigen Leuten, denen ich schon so oft mit meinen Geschichten den Mund verschlossen habe? Man wird mich mit ihnen auf eine Stufe stellen!“

 „Dazu wird es nicht kommen“ wirft Gottfried schnell ein, „wir kennen Dich doch und würden das nicht zulassen. Außerdem schreibt der anonyme Verfasser des Buches, dass es ihm nicht darauf ankommt, Dich zu verunglimpfen und nennt Dich einen Mann von außerordentlicher Ehre.“

„Ich denke, Du hast das elende Machwerk noch nicht gelesen. Wie kannst Du da wissen, was sich der Herr Anonymus dabei gedacht hat?

„Weil ich der Verfasser bin, Hieronymus! Ich bin hier, um es Dir zu gestehen. Ich konnte nicht ahnen, dass die Neuigkeit so schnell nach Bodenwerder gelangen würde. Es tut mir leid und ich bitte Dich um Entschuldigung für mein eigenmächtiges Vorgehen. Ich werde mich zu der Schrift bekennen und alle Schuld auf mich nehmen. Außerdem werde ich Dir mein Honorar und die Rechte überlassen. Eigentlich wollte ich Dir mit dem Buch eine Freude machen und …“

Hieronymus fällt ihm ins Wort und sein gutmütiges Gesicht mit der starken Nase und dem scheinbar immer lächelnden Mund ist nicht wieder zu erkennen:

„Eine Freude machen? Hab‘ ich es doch geahnt, dass Du dahinter steckst! Dein Schreibstil hat mich auf die Spur gebracht.“

Hieronymus geht im Zimmer sehr erregt und verärgert auf und ab.

Bestimmt ist auch noch Georg wegen seiner guten Beziehungen mit von der Partie! Ich habe es geahnt! Und Diederich hat Euch das elende Machwerk verlegt! In London? Das ich nicht lache! Vor der Tür in Göttingen! Sehr gut! Die perfekte Tarnung! Ein Volltreffer! Ihr habt einen Narren aus mir gemacht! Ich höre sie schon spotten: Der Münchhausen mit seinen Lügengeschichten und der Lügenbaron aus Bodenwerder! (von oben herab) Aber Phantasie und Lüge sind zweierlei, Herr Professor! Ihr habt meine Ehre ruiniert und mich vor meinen Standesgenossen bloß gestellt. Ihr, meine besten Freunde!

„Ich habe es eingesehen und bereue es, Hieronymus! Es war töricht und naiv von mir zu glauben, es ginge nur um Geschichten, die Leute auf eine unschuldige Art zum Lachen bringen.“

Hieronymus geht auf die abermalige Entschuldigung seines Freundes nicht ein und wird förmlich.

„Ich könnte Ihn auf Schadenersatz verklagen, … sehe aber davon ab, wenn Er verspricht, unser Gespräch vertraulich zu behandeln, Seine Autorschaft weiterhin zu verschweigen und nicht bekannt werden lässt, was hier zwischen mir und Ihm besprochen wurde.

„Ich verspreche es.“

„Gut! Ich will Ihm glauben, wenn Sein Wort noch etwas gilt.“

Gottfried ist erschrocken und beleidigt und dabei, sich aufzuregen, hält sich aber zurück und schweigt.

Hieronymus hat weiterhin einen bitteren Unterton in der Stimme als er sich von ihm abwendet:

„Ich hoffe, unsere Freundschaft hat sich für Ihn ausgezahlt!“

Er läutet nach Rösemeyer und als der in der Tür erscheint, entlässt er Gottfried mit den Worten:

„Herr Professor Bürger möchte gehen!“

 

Gottfried, durch die verletzenden Äußerungen und die abweisende Haltung seines Freundes ins Herz getroffen, geht an Rösemeyer, der verlegen zu Boden blickt, vorbei zur Tür. Der plötzliche Verlust seiner Freundschaft mit Hieronymus trifft ihn schwer und es fehlen ihm die Worte, mit dem hinter ihm gehenden Diener darüber zu sprechen. Gottfried spürt, Hieronymus hat sich für immer von ihm losgesagt! Er wird seine Heiterkeit und Spontaneität vermissen; die geselligen Abende nach den Jagden bei Punsch und Meerschaumpfeife, den unvergleichlichen Vortrag seiner Geschichten, den Stammtisch in der „Krone“ und die Treffen in Ruhländers Speiselokal in Göttingen sowie die Vorfreude auf künftige neue Abenteuer und Begegnungen. Sein Leben ist auf einmal schlagartig ärmer geworden, ärmer an Witz, Überraschungen und Lebensfreude.


Auf der Treppe fallen ihm beim Hinabgehen zum ersten Mal die knarrenden und ächzenden Geräusche auf, die jeder seiner Schritte auf den schweren Trittstufen verursacht. Er bemerkt erst jetzt, dass Rösemeyer oben zurück-geblieben ist. Dann machen sich endlich Schmerz und Trauer in ihm breit und schließlich fließen auch Tränen – immer wieder Tränen.

 

 

 

Titelseite des Faltblattes einer Ausstellung "Münchhausen. Vom Jägerlatein zum Weltbestseller" der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen in der Pauliner Kirche aus dem Jahr 1998, ein Jahr nach dem 200. Todestag des Freiherrn.

Das Bild von G. Bruckner von 1752 zeigt das Porträt von Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen als kaiserlich russischen Rittmeister in der Uniform seines braunschweigischen Kürassier-regiments in der Garnisonstadt Riga. Ohne seinen Aufenthalt im Baltikum wären seine Geschichten wohl nicht entstanden.

 

Der folgende Text und die darin eingestreuten Abbildungen entstammen der gleichen Quelle.

 

 

 

Nach seinem letzten Besuch in Bodenwerder hatte sich Gottfried vorgenommen, seine Freundschaft mit Hieronymus in einem Gedicht auszudrücken und ... hat es tatsächlich auch geschrieben, seine "Laudatio auf Münchhausen", denn der Text dazu wurde in seinem Nachlass gefunden. Vielleicht hat ihn sogar Hieronymus noch lesen können, nachdem Gottfried drei Jahre vor ihm gestorben war, ohne dass sich die ehemaligen Freunde wiedergesehen und versöhnt hatten. Das Gedicht hat folgenden Wortlaut:

 

 

Laudatio auf Münchhausen

 

 Ich kenne ihn aus Adelskreisen

als einen ehrenwerten Mann,

der lang und breit erzählen kann

von seinen "wunderbaren" Reisen.

 

 Die frei erfundenen Geschichten,

die er dabei zum Besten gibt,

sind unter Freunden sehr beliebt,

die oft und gern davon berichten.

 

 Denn alle sind von ihm begeistert,

weil er so glänzend fabuliert

und sie so köstlich amüsiert,

wenn er Probleme löst und meistert.

 

 Sein Ruf, zu lügen und zu prahlen,

hat ihn verbittert und gekränkt;

er hat sich niemals aufgedrängt

und ist ein Mann mit Idealen.

 

 Ich kenne ihn seit vielen Jahren

und weiß, dass er kein Lügner ist,

der seinen Adelsstand vergisst,

weil wir die besten Freunde waren.

 

 

Die beiden Freunde sind längst durch Hieronymus' Nachruhm und die Leser seiner "Lügengeschichten" wieder ausgesöhnt. Gottfried  hat ihm unfreiwillig zu diesem Ruhm verholfen, der sie bis heute miteinander verbindet, den "Lügenbaron" Hieronymus Freiherr von Münchhausen aus dem Weserstädtchen Bodenwerder und seinen eigenmächtigen, unautorisierten Freund und Helfer Gottfried August Bürger aus der damals schon berühmten Universitätsstadt Göttingen. Diese posthume Verbindung, das steht inzwischen fest, ist unsterblich und währt ewig!