Wenn ich erst malen kann ... wie ich selbst

Die junge Malerin Paula Modersohn-Becker auf dem Weg nach Paris.

 

Der erste Tag des neuen Jahrhunderts ist angebrochen. Ein leichter Morgennebel liegt über der Marcusheide, der sich erst zum Weyerberg hin auflöst. Diese riesige Sand- und Mergeldüne ist die einzige Erhebung weit und breit. Die Hamme draußen vor dem Ort ist zugefroren, die Kanäle und Gräben ebenso. Die schweren Torfkähne liegen eisfrei gehalten im Wasser, winterfest vertaut und abgedeckt ohne ihre durch Eichenlohe braun gefärbten Spriet- oder Lugger-Segel, die aus dem Mastschuh genommen und unter Deck verstaut sind.

Es ist kalt. Auf den wenigen Kiefern, Weiden und Birken oder Barken, wie man sie hier nennt, glänzt matt der Raureif und über dem trostlosen Ostendorfer Moor, dem Teufelsmoor, mit den Schilfhütten der Bauern und Moorkolonisten, in denen Krankheiten, Hunger und Aberglaube herrschen, beginnt sich der weitgespannte Himmel von Worpswede langsam abzuzeichnen.

In dieses „Wunderland“ war Paula vor drei Jahren gekommen, um Zeichen-unterricht zu nehmen, bei keinem Geringeren als bei Fritz Mackensen, dem Mitbegründer der „Künstlergemeinschaft Worpswede“, die durch Bilderaus-stellungen in Bremen und München von sich reden gemacht hatte. Sie fühlt sich glücklich, hier zu sein, schließt Freundschaft mit der angehenden Bildhauerin Clara Westhoff und schwärmt den Eltern in ihren Briefen von den neuen Eindrücken vor, die sie von Landschaft und Menschen gewonnen hat.

 

Im Augenblick jedoch sitzt Paula in der Postkutsche, die einmal in der Woche von Worpswede nach Bremen fährt und gerade den Ort in Richtung Westerwede verlassen hat. Sie ist früh aufgestanden. Die 25 km bis in die Stadt hat sie schon einige Male zurückgelegt, wenn sie dort ihre Eltern besuchen wollte. Diesmal hat sie andere Pläne. Paris ist ihr ehrgeiziges Ziel und ihre große, stille Sehnsucht. Einmal heraus aus der dörflichen Abgeschiedenheit und hinein ins pulsierende Leben der Kunstmetropole an der Seine! Sie fährt zur nächsten Bahnstation in ihre Heimatstadt, um dort den 9-Uhr-Zug zu nehmen, der sie nach knapp 10-stündiger Fahrt über Köln nach Paris bringen soll. In Köln hat sie zwei Stunden Aufenthalt, um den Dom zu besichtigen. Es ist ihre erste Reise in die französische Hauptstadt, zu der sie sich frei und unabhängig und kurzfristig entschieden hat. Hier, so hat es die 24-jährige Paula beschlossen, will sie Malerin werden.

 

Oberhalb des Armenhauses, einem heruntergekommenden Gebäude mit einem spärlich eingerichteten Saal für die Ärmsten des Dorfes, wo sie ganz in der Nähe ein Zimmer gemietet hat und den Atelierraum einer Freundin mitbenutzt, ist sie in dieser Silvesternacht zugestiegen. Sie trägt unter einer schwarzen Pelzjacke ein langes Stufenkleid aus Wolle mit Pelzkragen und ihre Hände wärmt ein flauschiger Muff, den sie sich kürzlich dazu passend gekauft hatte. Den Kopf bedeckt ein kleiner, runder Hut mit heller Krempe und Blumenschmuck. Darunter wird ihr volles, braunes Haar sichtbar, das hochgesteckt und streng in der Mitte gescheitelt ist. Während die übrigen Passagiere in der Kutsche mit verschlafenen Augen vor sich hin dösen, denkt Paula über ihre Zukunft als Malerin nach.

 

In Bremen angekommen, trifft sie sich kurz mit der ganzen Familie und ihrer älteren Schwester Milly, die noch bei den Eltern wohnt und mit der sie einen regen Briefwechsel führt. Emilie Becker, genannt Milly, ist neben ihrer Mutter die einzige unter den Verwandten, die zu Paula in den wenigen Jahren, die ihr zu ihrer künstlerischen Reife noch bleiben, steht, während der Vater die Malerei seiner Tochter lediglich als ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung sieht, bis sie einen Mann gefunden hat, in dem sie aufzugehen hat, um sich seinen Eigenarten und Wünschen zu widmen (bzw. unterzuordnen), ohne sich von solchen selbstsüchtigen Gedanken wie malen dabei leiten zu lassen. „Malweiber“ mit Schürze und Malkittel konnten für ihn, dem Vorurteil seiner Zeit entsprechend, keine Künstlerinnen sein. Trotz dieser konventionellen Ansichten über Stellung und Pflichten der Frau in der damaligen kaiserlichen Gesellschaft ließ er sie gewähren und wurde so indirekt auch zu ihrem Förderer. Dennoch: Malerei als „Lebensbedürfnis“, ob in Paris oder bei den „Moorklecksern“ in Worpswede, war ihm, der nicht las, und am liebsten zu Hause blieb, unverständlich und der falsche Einfluss auf seine Tochter.

 

Nachdem Paula beim Klang der Glocken des Bremer Doms in ein Damencoupé III. Klasse in den Schnellzug nach Paris eingestiegen ist, findet sie ein Abteil, in dem eine Dame mittleren Alters sitzt, die sich als Madame Claire vorstellt und wie sie, die 6stündige Reise vom Kölner Hauptbahnhof zum Gare du Nord von Paris vor sich hat.

Die beiden Frauen kommen schnell ins Gespräch und Paula erzählt Madame Claire von Marie Bashkirtseff, deren Tagebücher sie kürzlich gelesen hat, und von ihrer Absicht, in Paris Malerin zu werden.

 

„Ich sage Ihnen. Sie hat mir aus der Seele gesprochen, wie eine Schwesterseele! Mit 24 ist sie an der Schwindsucht gestorben und wusste doch schon von dem wichtigsten Gegenstand auf Erden: Das eigene Ich. Seitdem fühle ich mich bestärkt, meinen Weg zu gehen, gerade und einfach, um Malerin zu werden. Das ist der Grund, warum ich nach Paris fahre.“

 

„Mademoiselle Paula, Sie sind eine zielstrebige und mutige junge Frau. Die russische Malerin hat es Ihnen angetan, ihr Schicksal bewegt Sie und Sie sprechen von Schwerterseele, weil Sie fühlen, dass Sie ihr nah sind. Ich sehe es Ihren Augen an: Sie meinen es ernst und Sie wollen es ihr gleichtun. Wissen Sie eigentlich, dass Marie Bashkirtseff eine Frau war, die für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und den Frieden auf der Welt eingetreten ist? Ich habe sie in meiner Zeit als Frauenrechtlerin in Paris kennengelernt. Wir haben inzwischen den gleichberechtigten, uneingeschränkten Zugang von Frauen zu den Akademien erstritten. Sie kommen zur rechten Zeit!“

 

Paula wusste es nicht. Sie interessierte sich nicht für die Frauenbewegung, die auch in Deutsch-land mehr und mehr bekannt wurde. Sie war lediglich an ihr als Mensch und Malerin interessiert und las ihr Tagebuch, das bald nach dem Tod der Künstlerin zum Kultbuch avancierte, allein aus diesem Grunde. Madame Claire merkte es und schwieg über ihr näheres Verhältnis zu Marie Bashkirtseff. Paula fährt indessen fort in ihrem Enthusiasmus und kommt, nachdem sie auch Nietzsches „Zarathustra“ als Schwesterseele bezeichnet hat, auf ihre große Leidenschaft, das Malen, zurück.

 

„Ich hatte einen öffentlichen Misserfolg mit meinen Bildern, der mich sehr enttäuscht und wütend gemacht hat. Es war im vorigen Jahr in Bremen, kurz vor meiner Abreise. Eine schreck-liche Blamage für meine Familie.“

 

„Was ist passiert?“

 

„Einige meiner Bilder, die ich in Worpswede gemalt hatte – einem Moordorf bei Bremen, in dem ich Malunterricht habe – wurden in einer Kritik in der Weser-Zeitung verrissen. Sie entsprachen nicht der gängigen Sicht und der konservativen Malweise und wurden als unqualifiziert, grober Unfug und als ekelhaft abgetan. Ich wollte ja auch etwas ganz Anderes und habe meine Bilder daraufhin sofort aus der Kunsthalle abgeholt“.

 

„Worauf kam es Ihnen denn an?“

 

„Ich will ein Bild malen, kein Abbild der Wirklichkeit wie bisher. Ich will die Wahrheit zeigen! Aber je einfacher ich dabei vorgehe, umso weniger versteht man mich. Jedenfalls bestärkte mich dieser Misserfolg in meinem Wunsch nach Paris, in die europäische Kulturhauptstadt, zu fahren. Diesen Entschluss habe ich jetzt in die Tat umgesetzt.“

 

„Und was erwarten Sie von Paris?“

 

„Ich erwarte eine Aufgeschlossenheit der zeitgenössischen Kunst gegenüber, die es bei uns in Deutschland nicht gibt. Wir kennen die neuesten Entwicklungen im Ausland gar nicht. Man lässt die Bilder französischer Maler nicht ins Land. Das mag an der politischen Situation zwischen unseren beiden Völkern liegen, aber ich brauche den Austausch mit anderen Künstlern, um Anregungen für meine eigene Kunst zu bekommen. Ich wachse an den Begegnungen mit anderen Menschen. Dafür ist Worpswede zu provinziell und abgelegen, und ich bin ein moderner Mensch und ein Kind meiner Zeit.“

 

„Ich verstehe Ihre Motivation, Malerin zu werden. Ich erkenne in Ihnen Marie wieder. Sie sind auf der Suche nach dem eigenen Ausdruck und wollen etwas aus sich machen. Ich denke, Sie können es schaffen. Wenn ich Ihren Willen und die Zielstrebigkeit und die Kraft dahinter sehe, etwas zu vollbringen, bin ich mir ganz sicher. Sie müssen nur an sich glauben und Ihrem Gewissen folgen!

Kennen Sie die Bilder von Paul Cézanne? Einige stehen bei Vollard in der Rue Laffitte 6.“

 

Paula notiert sich den Namen des Malers und die Adresse der Galerie. Von einem Paul Cézanne hat sie bis dahin noch nichts gehört.

 

„Die müssen Sie sich unbedingt ansehen! Ich glaube, seine Bilder werden Ihnen weiterhelfen. Vor allem die Stillleben sind ganz neu gesehen und sind nicht mehr wie die Bilder der Alten Meister auf die Perspektive angewiesen. Ach ja, und besuchen Sie die Weltausstellung, da gehen Ihnen die Augen auf und die Vorurteile verschwinden!“

 

Madame Claire lehnt sich zurück und schließt die Augen für den Rest der Reise. Paula denkt noch über ihre Worte nach und an die Zuversicht, die aus ihnen spricht. Ja, diese Frau versteht sie und sie hat sogleich das Gefühl, alle Franzosen werden sie verstehen und deshalb wird sie wiederkommen, solange, bis aus ihr etwas geworden ist.

Wer war diese erstaunliche Frau, vor der sie sich so offen gezeigt hat und die ihr Innerstes so gut zu erkennen und zu verstehen scheint? Sie wird es nicht mehr erfahren, denn als der Zug am Gare du Nord, dem Nordbahnhof von Paris hält, ist es spät geworden und der Abschied von ihr geht dann sehr schnell.

 

Paula steht plötzlich mit ihrem Gepäck allein auf dem Bahnhofsvorplatz und spürt beim Anblick der großen, ihr bis dahin unbekannten Stadt ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit und weiß, dass sie im Begriff ist, ein neues Leben anzufangen – ein Leben als eigenständige Künstlerin, wie sie es sich immer gewünscht hat. Ihre anfängliche Angst vor der Einsamkeit in der Großstadt ist bald verflogen und sie fühlt sich zu Hause, am Ort ihrer Kunst, deren Ziele „Einfachheit und Größe“ sie schon in sich trug, bevor sie hier herkam, um dafür ihren eigenen Ausdruck zu finden. Hier reifte sie heran, während Worpswede der Ort der Besinnung und Ruhe, der Verarbeitung ihrer vielfältigen Eindrücke blieb. Dass sie damit den Weg in die Moderne, ins 20. Jahrhundert betrat, wurde allen erst später klar, nachdem man ihre Gemälde gefunden hatte, die sie in Paris und in der Abgeschiedenheit von Worpswede für sich ganz allein und so wie sie es selbst wollte gemalt hatte.

 

Hans am Ende: Winter in Worpswede, ca. 1900
Hans am Ende: Winter in Worpswede, ca. 1900
Otto Modersohn: Dorfstraße in Worpswede, 1897
Otto Modersohn: Dorfstraße in Worpswede, 1897
Fritz Mackensen: Torfkähne auf der Hamme, 1904
Fritz Mackensen: Torfkähne auf der Hamme, 1904

Torfkähne waren ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum beginnenden 20. Jahruhundert die einzigen Verkehrsmittel im Teufelsmoor. Sie glitten durch die vielen kleinen Wasserstraßen und prägten das Landschaftsbild. Die schwarzen Boote mit braunen Segeln, die vollbeladen mit Torfballen auf Flüssen und Kanälen unterwegs waren, wurden aus Eichenholz gefertigt und waren wenig komfortabel. Die Torfbauern stakten, treidelten und segelten oft mehrere Tage bis nach Bremen und an die Unterweser, um den Torf als Brennmaterial zu verkaufen.


                   Quelle: Tourist-Information Worpswede 2013