Winnie the Pooh

Im Leben zurück: Lukas überwindet seine Angst

 

Als ich Lukas kennenlernte, war er schon zwei Monate im „Storchennest“, einer stationären pädagogische Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, und mein Vorgänger hatte es abgelehnt, weiterhin mit ihm zu arbeiten. In seinem Zimmer stellte der 8-Jährige mit seinem Urin gefüllte Cola-Flaschen unter dem Bett auf, von denen nach kurzer Zeit ein bestialischer Gestank ausging, der es einem praktisch unmöglich machte, sein Zimmer zu betreten, ohne sich dabei zu übergeben. Lukas schien der penetrante Geruch nichts auszumachen und er ergänzte Flaschen, die man ihm wegnahm, jedes Mal durch neue. Von ihm war über den Grund seines Verhaltens nichts herauszubekommen, denn er hatte sich vollständig in sich zurückgezogen und verweigerte jede Auskunft darüber. Er hatte Ängste vor dem Einschlafen, schrie aus dem Schlaf heraus, ohne davon aufzuwachen, war tagsüber schreckhaft und leicht erregbar; manchmal fühlte er sich bedroht, wurde aggressiv, geradezu panisch, um dann wieder hilflos und traurig zu wirken. Oft saß er mit zwischen den Oberschenkeln zusammengedrückten Händen und mit gesenktem Kopf da und starrte vor sich hin ins Leere. Es war offensichtlich, dass Lukas unter massiven psychischen Problemen litt.

 

Die Heimleitung, übertrug mir seinen Fall als letzten Versuch vor der Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung. Man erhoffte sich von mir einen neuen Behandlungsansatz und entsprechende Ideen dazu, was eine Überforderung war, weil ich mich beim „Storchennest“ unmittelbar nach meinem Studium der Familienpädagogik und Familienhilfe beworben hatte und bisher nur wenig Praxiserfahrungen sammeln konnte. Es war meine erste Stelle!

 

Im Einführungsgespräch mit meinem Vorgänger erfuhr ich weitere Einzelheiten über Lukas. Er war vom Jugendamt ins „Storchennest“ eingewiesen worden, nachdem seine alleinerziehende Mutter, die zur Miete in einem abgelegenen Dorf wohnte, mit seinen Verhaltens-, Erziehungs- und Schulproblemen nicht mehr fertig wurde. Lukas hatte den Kontakt mit ihr auf Besuche im „Storchennest“ beschränkt und wollte auch nicht die Ferien mit ihr zu Hause verbringen, sodass die Heimleitung seine Betreuung und Unterbringung auch auf diese Zeit, in der nur wenige Kinder anwesend waren, ausdehnen musste. Dazu war eine Sonderregelung erforderlich, die eingeholt und organisiert werden musste. Eine hierfür angesetzte Teambesprechung der Betreuer hinterließ wieder einmal Ratlosigkeit und man legte mir nahe, mich mit der Frage nach den Ursachen im Fall Lukas noch einmal gründlich zu beschäftigen.

 

Ich beschloss, Lukas‘ Mutter an ihrem Wohnort aufzusuchen, um in einem Gespräch mit ihr näheres über das seltsame Verhalten ihres Sohnes zu erfahren.

 

Vorab hatte ich jedoch noch meine erste Begegnung mit Lukas, die in Gegenwart des Heimleiters und meines Vorgängers stattfand, um mich mit Lukas bekannt zu machen. Abgesehen von dem Uringeruch, den er auch ohne seine Flaschen um sich herum verbreitete, konnte ich mir so schnell keinen persönlichen Eindruck von ihm machen. Lukas sagte kein Wort, verblieb in seinem „Schneckenhaus“ und warf mir nur einen scheuen, nichtssagenden Blick zu.

 

Auf der Fahrt zu seiner Mutter gingen mir verschiedene Erklärungs-möglichkeiten für seine Störungen durch den Kopf, die auf ihn möglicherweise zutreffen könnten.

 

Vorne an stand die Vermutung, sein auffälliges Verhalten sei eine Abwehrhaltung gegen seine Betreuer wegen der Heimunterbringung. Dazu passte aber nicht seine Weigerung, die Ferien bei seiner Mutter zu verbringen; denn das wäre ja eine Gelegenheit gewesen, das Heim für längere Zeit zu verlassen. Oder praktizierte er eine Art von Protest gegen seine Mutter, um nicht dauerhaft mit ihr zusammen sein zu müssen? Hatte es vielleicht etwas mit seinem Vater zu tun? Den hatte er aber gar nicht kennen gelernt! Auch an Schulstress, Mobbing von Mitschülern usw. dachte ich.

 

Das Gespräch mit der Mutter kam nur schleppend in Gang. Sie erzählte mir, dass sie wegen der Abgelegenheit der Wohnung und der Annäherungsversuche ihres Vermieters, einem verwitweten Landwirt, der im gleichen Haus seinen Ruhestand verbrachte, die jetzige Wohnung aufgeben wolle, um sich in der Stadt, in der Nähe ihres Sohnes, eine neue zu suchen. Ich fragte sie nach dem Vater von Lukas und ob sich ihr Sohn in der Grundschule des Ortes wohlgefühlt habe. Über den Vater wollte sie nicht sprechen. Sie hatte ihn bei der Geburt von Lukas nicht angegeben und er hatte sich seitdem weder um sie noch um seinen Sohn gekümmert. Sie meinte, der fehlende Vater sei für Lukas nie ein Problem gewesen, jedenfalls war von ihm zwischen ihnen nicht bzw. nur beiläufig die Rede gewesen. In der Schule sei es ihrem Sohn zunächst gut gegangen, nur als das Bettnässen im vergan-genen Jahr einsetzte, wäre er in den Noten abgefallen und hätte schließlich die Schule ganz verweigert. Überhaupt hätten zu diesem Zeitpunkt die Schwierigkeiten mit ihm angefangen, die dann auch zur Einweisung ins „Storchennest“ führten, weil sie mit ihm überfordert war und ihn wegen ihrer Arbeitsstelle in einer Bäckerei, insbesondere während der Nachtschicht, nicht beauf-sichtigen konnte. Ich kannte die näheren Umstände der Einweisung aus den Akten und lenkte das Gespräch mehr auf die persönliche Ebene, denn ich erkannte schnell, dass sie ihren Sohn liebte und unter seiner augenblicklichen Situation litt. Ich fragte sie, ob sie sich erklären könne, warum Lukas seine Ferien nicht zusammen mit ihr verbringen wolle und lieber im Heim blieb. Sie hatte keine Antwort darauf und fing an zu weinen. Ich tröstete sie und legte meine Hand auf ihre Schulter, was sie geschehen ließ. Ich erfuhr noch etwas über Lukas‘ Vorliebe für Sonnenblumen, die hier zu Tausenden auf den Feldern standen, ließ mir sein Zimmer zeigen und staunte über seine Sammlung von Stofftieren, worunter die Braunbären eine bevorzugte Stellung einnahmen, denn es gab nur wenige andere Kuscheltiere. Beim Abschied waren wir uns näher gekommen und sie sagte, wenn sie eine neue Wohnung in der Stadt gefunden habe, würde sie bei mir im „Storchennest“ vorbei-schauen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die familiäre Situation der Grund für Lukas‘ Verhal-tensauffälligkeiten sein sollte, wie es in den Heimunterlagen vermutet wurde. Mein Gefühl brachte mich auf einen anderen Weg.

 

In den folgenden Wochen widmete ich mich ganz der Arbeit mit dem Jungen. Eine gewisse Annäherung zwischen Lukas und mir kam schließlich zustande. Wir gewöhnten uns aneinander, spielten gelegentlich kleinere Spiele, die ihm allerdings wenig Spaß machten aber redeten nur wenig miteinander. Ich spürte seine Einsamkeit, Hilflosigkeit und Angst, verlegte mich meist aufs Beobachten und Zuhören und versuchte, ihn durch Vorlesen und Musizieren aufzumuntern; doch ohne bleibenden Erfolg, denn seine mit Urin gefüllten Flaschen standen nach wie vor unter seinem Bett und stanken entsetzlich.

 

Dann überraschte uns Lukas eines Tages mit der Bitte, seine Mutter in ihrer neuen Stadtwohnung besuchen zu dürfen. Sie hatte ihm bei einem ihrer Besuchskontakte davon erzählt. Dieser Besuch fand statt und wir hatten uns alle Hoffnungen gemacht, dass nach diesem Ereignis eine Wende in seinem Fall eintreten würde. Doch es änderte sich nichts, bis seine Mutter, wie sie es mir vor einiger Zeit angekündigt hatte, mich eines Tages in der Einrichtung aufsuchte. Schon bevor sie Platz genommen hatte, standen ihr die Tränen in den Augen und sie brauchte Zeit, um ihre Fassung wiederzufinden, um mit mir reden zu können.

 

„Ich habe es nicht bemerkt“, begann sie, „ich habe es wirklich nicht bemerkt“ und brach wiederum in Tränen aus „Ich hätte ihn schützen müssen … der Bauer … der Bauer, unser Vermieter … er hat sich an Lukas herangemacht, wenn ich abends nicht zu Hause war, und hat ihn sexuell missbraucht. Lukas hat es mir erzählt, mit Einzelheiten, die er sich nicht ausgedacht haben kann. Oh, mein Gott, wenn ich daran denke!“ Sie war verzweifelt und weinte wieder.

 

Aus einer Mischung aus Mitgefühl, Schmerz, Wut und Entsetzen kamen auch mir die Tränen, die ich aber zu unterdrücken versuchte.

 

Jetzt wurde mir alles klar, die bisher scheinbar beziehungslos und unverständlich nebeneinander bestehenden Symptome, fügten sich zusammen und hatten eine konkrete Ursache: Lukas wollte nicht in die alte Wohnung zurück wegen seines Vergewaltigers und hatte festgestellt, dass der sich ihm nicht näherte, wenn er nach dem Bettnässen nach Urin roch. Diese Schutz- und Abwehrreaktion hatte er auch im „Storchennest“ beibehalten, indem er die Urinflaschen in der Nähe seines Bettes aufstellte, um sicherzugehen, dass sich während der Nacht niemand an ihn heranmachte. Ich erklärte der verzweifelten Frau die Zusammenhänge, nahm sie in den Arm und tröstete sie damit, dass wir jetzt einen konkreten Ansatz hätten, ihrem Sohn zu helfen, obgleich ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, welche Strategie ich einschlagen sollte.

 

Die erlösende Idee kam mir auf einem Flohmarkt, auf dem ich ein Nachtlicht für Kinder entdeckte, das einem kuscheligen Bären nachgebildet und mit Batterie betriebenen Leuchtdioden ausgestattet war. Die Figur strahlte nach dem Einschalten ein warmes, gelb-orangenes Licht aus, das beruhigend wirkte. Außerdem konnte man sie als Taschenlampe in der Nacht verwenden, verschiedene Blink- und Dimmereffekte in wechselnden Farben erzeugen und sie damit auch als Spielzeug nutzen.

 

Dann überraschte ich Lukas eines Tages mit "Winnie the Puuh“, dem Leucht-Bären, und einem großen Strauß gelber Sonnenblumen und erklärte ihm das Ein- und Ausschalten des Stoffbären und sagte ihm, er würde ihn mit seinem Licht in der Nacht beschützen und er solle es einmal ausprobieren. Die Sonnenblumen stellte ich ihm auf den Nachttisch neben den Bären.

 

Er schwieg wie immer, aber ich bemerkte, wie er die Blumen freundlich anblickte und den Bären mehrmals ein- und ausschaltete, um sich zu vergewissern, dass alles funktionierte.

 

Im Weggehen sah ich noch, wie er "Winnie the Puuh", sein Nachtlicht, und wie ich hoffte, auch seinen neuen Freund und Beschützer, so zurechtrückte, dass er seinen Lichtschalter vom Bett aus erreichen konnte und der Bär ihn direkt anschaute.

 

Am nächsten Tag räumte er seine Urinflaschen bis auf eine weg, verteilte die Sonnenblumen im ganzen Zimmer und hüpfte mit ausgestreckten Armen zwischen ihnen herum.

 

Der Bann war gebrochen, nach und nach fand er ins normale Leben zurück. "Winnie the Puuh" hatte ein kleines Wunder vollbracht. Ich war glücklich und erleichtert und zeigte es ihm und er dankte es mir mit einem winzigen Lächeln.

 

Lukas und seine Mutter bekamen eine professionelle Betreuung durch einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, denn unsere Möglichkeiten, ihm zu helfen, waren begrenzt und bald erschöpft. Ich hielt den Kontakt zu ihnen aufrecht, auch, nachdem Lukas das „Storchennest“ verlassen hatte und erfuhr nach einiger Zeit von seiner Mutter, dass er wieder zur Schule ging.