Verloren aber nicht vergessen

Jüdisches Leben in Einbeck während des Nationalsozialismus 1933 - 1944

 

Flyer über die ehemaligen jüdischen Bürger von Einbeck
Flyer über die ehemaligen jüdischen Bürger von Einbeck

Während der Arbeit an meinem Gedicht "Eine ganz normale Stadt" ( Meine Gedichte/Letzter Gang), in dem ich im Winter 2007 Ereignisse aus der NS-Vergangenheit am Beispiel meines Wohnortes Einbeck darstellen wollte, wurde mir bewusst, dass wir außer einem Mahnmal von 1968 (mit der unpersönlichen Inschrift "Gedenket") keinen Ort der Erinnerung hatten, der auf den Verlust unserer ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürger und ihrer Gemeinde während des Nationalsozialismus hinwies.

In einem Gespräch mit der Leiterin des Städtischen Museums und Stadtarchivs entwickelte sich daraus die Idee, sich gemeinsam dafür einzusetzen, eine Gedenktafel mit den Namen der seinerzeit verfolgten, vertriebenen, deportierten und ermordeten Menschen am Alten Rathaus der Stadt anzubringen.

In einem Brief an den Bürgermeister vom 15. Januar 2008 machte ich daraufhin den Vorschlag, ein solches Unternehmen zu befürworten, im Stadtrat vorzutragen und im Auftrag der Stadt durchführen zu lassen.

Der Vorschlag wurde angenommen, in den zustän- digen Ausschüssen der Stadt vorverhandelt und in einer Ratssitzung am 2. Juli 2008 beschlossen, die Gedenktafel anlässlich des 70. Jahrestages der "Reichspogromnacht" am 9. November 2008 am Alten Rathaus anzubringen und einzuweihen.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Vorhaben von der örtlichen Presse und ver- schiedenen Privatpersonen durch Beiträge zum Schicksal einiger jüdischer Familien unterstützt, ein von mir angeregtes und geschriebenes und von alto.de New Media GmbH, Einbeck, entworfenes Faltblatt (Abbildung) zur näheren Information der Bevölkerung und künftiger Besucher der Stadt gedruckt und die inzwischen aus Spenden finanzierte Gedenktafel nach einem ökumenischen Gottesdienst der christlichen Kirchen zum vorgesehenen Zeitpunkt durch den Bürgermeister enthüllt.

Damit wurde innerhalb eines Jahres realisiert, was in den 60 Jahren zuvor nicht passiert war, die Namen der ehemaligen 68 jüdischen Mitbürger öffentlich zu nennen und den Ort zu bezeichnen, an dem sie einmal als Deutsche unter Deutschen, als Bürgerinnen und Bürger, als Nachbarn und Freunde - als Menschen gelebt haben.

 

Der vollständige Wortlaut des Faltblattes ist auch auf der neuen Internetseite des Fördervereins "Alte Synagoge" in Einbeck e.V. zu lesen und steht dort außerdem unter "Öffentlichkeitsarbeit" als pdf-Datei zum Download bereit. Der Verein hat die weitere Betreuung und Pflege der Gedenktafel sowie die Öffentlichkeitsarbeit übernommen.

 

Einbeck im November 2008/Juli 2009

 

 

Literatur: Frank Bertram, Susanne Gerdes u.a.: Verloren aber nicht vergessen. Jüdisches Leben in Einbeck. Studien zur Einbecker Geschichte, Bd. 15, Oldenburg 1998. ISBN 3-89598-562-7 (Begleitband zur Ausstellung im Städtischen Museum Einbeck). Plümer, E.: Schicksale der Einbecker Juden von 1933 bis 1945. In: Zur Geschichte der Juden in Einbeck (Hrsg.: Stadt Einbeck). Einbeck 1988. Brinckmann, I.: Dokumentation zur Geschichte der Stadt Einbeck 1918 - 1945. Ein chronolo- gischer Überblick. Einbeck 1987 (Im Auftrag der Stadt Einbeck). Zeitgenössische Einwohnermelde-Akten der Stadt Einbeck (Stadtarchiv Einbeck).

 

Von auswärtigen Institutionen waren beteiligt: Die KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück und Moringen sowie die "Jüdische Gemeinde Göttingen", das "Jüdische Lehrhaus e.V. Göttingen und das Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen.

 

Das folgende Video von Eckhard Senger, Einbeck, zeigt die Veranstaltung zur Enthüllung der Gedenktafel mit einer Ansprache des Bürgermeisters.

 

Gedenktafel (vorne links) am Alten Rathaus von Einbeck, 7-2009
Gedenktafel (vorne links) am Alten Rathaus von Einbeck, 7-2009

 

Die zeitliche, thematische und emotionale Distanz zu den einzigartigen Ereignissen während des Nationalsozialismus macht Erinnern schwer. Eine "einfühlende Identifizierung" mit den Leiden der Opfer ist jedoch nötig, um eine für echtes Erinnern (Trauern) erforderliche emotionale Nähe herzustellen. Außerdem ist ein hinreichendes Faktenwissen und ein autonomer Umgang mit der NS-Geschichte erforderlich, um künftigen antisemitischen Tendenzen wirksam begegnen und widerstehen zu können. Anderenfalls bleibt Erinnerung fragwürdig und niemand kann sicher sein, dass sich die Geschehnisse von damals in einem entsprechend veränderten geistig-gesellschaftlichen Umfeld auch heute in anderer Form wieder- holen können wie es uns in den deutschen Spielfilmen "Das Experiment" (2001, basierend auf dem Milgram-Experiment von 1961) nach dem Roman von Mario Giordano und "Die Welle" (2008) nach einer Kurzgeschichte bzw. einem Schulex- periment von William Ron Jones, kürzlich vergegenwärtigt wurde.

Der bekannte amerikanische Psychologe Roy F. Baumeister führt in seinem Buch “Evil. Inside Human Violence and Cruelty“ (1999) im Wesentlichen 4 Gründe an, warum ganz normale Menschen nach anfänglichen Hemmungen Verbrechen begehen: Als Mittel zum Zweck, aus ideologischen und religiösen Überzeugungen, aus verletztem Narzissmus und aus Sadismus. Der wohl wichtigste Schutz dagegen ist Mitgefühl mit den Opfern (Empathie) und nicht etwa moralische Prinzipien oder intellektuelle Bildung und schon gar nicht Verdrängen und Vergessen.

 

Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürger von Einbeck vom 9. 11.  2008
Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürger von Einbeck vom 9. 11. 2008

 

 

Das "United States Holocaust Memorial Museum" in Washington, DC, hat unsere ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger kürzlich (September 2013) in ihre "Holocaust Survivors and Victims Database" aufgenommen und auf meine Anregung für sie eine eigene Internetseite eingerichtet.

 

 

Auch von der Holocaust-Gedenkstätte "Yad Vashem" in Jerusalem wurden die Namen unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger unter der Nr. 10634902 in die dortigen Archive aufgenommen.

 

 

Hinweisen möchte ich noch auf einen Text des katholischen Theologen Fulbert Steffensky (Pax Christi, Münster) zu unserem Thema, auf den ich erst kürzlich (17.2.2010) nach einem Vortrag der ehemaligen Landesbischöfin Margot Käßmann in Northeim aufmerksam gemacht wurde.

 

Zum 3. Jahrestag (am 9.11.2011) unserer 2008 eingeweihten Gedenktafel (siehe oben) habe ich den folgenden Leserbrief in der "Einbecker Morgenpost" veröffent-licht, in dem ich näher auf das Schicksal von Alfred Kayser und seiner Familie eingehe:

 

L e s e r b r i e f

zum 9. November 2011 in der Einbecker Morgenpost

 

Erinnern und Vergessen

 

Den heranwachsenden Generationen scheint es zunehmend schwerer zu fallen, sich an Auschwitz zu erinnern. Mit Vergessen allein erklärt sich das wohl nicht, hier sind auch verschiedene allgemein übliche Abwehr-mechanismen am Werk, die bis hin zu Verdrängung und Ignoranz reichen. Erinnern, verstehen, akzeptieren, identifizieren und ein verantwortlicher Umgang mit dem Holocaust ist also nach wie vor notwendig und wichtig!

 

Im Jahr 2000 wusste „jeder fünfte Jugendliche (zwischen 14 und 17 Jahren) nicht mehr, wer oder was Auschwitz war oder ist“. Das ergab eine bundesweite, repräsentative Umfrage (Silbermann, A.; Stoffers, M.: Auschwitz: Nie davon gehört? Berlin 2000). Ich bezweifle, dass es damit nach gut 10 Jahren besser geworden ist: Die Erinnerung scheint zu verblassen, allen Büchern, Medienberichten, Gedenkreden und Gedenktafeln und dem Internet zum Trotz. Ahnungslosigkeit macht sich breit. Wer hat, wenn nicht von Auschwitz-Birkenau, dann noch etwas von den anderen Vernich-tungslagern Treblinka, Belzec, Sobibor und den zahlreichen Konzen-trationslagern und ihren ebenso zahlreichen Nebenlagern bei uns und in den von den Nazis besetzten Ländern gehört? Liegt es vielleicht daran, dass sich ein um das Erinnern Bemühender heute über ein wissenschaftliches Erkenntnisvermögen verfügen muss, um sich die relevanten Fakten aneignen zu können und die vielen Versuche „zur bewussten und gewollten Manipulation der Darstellung von Wirklichkeit“ in Bezug auf die NS-Geschichte zu durchschauen? Oder fehlen ihm Unvoreingenommenheit, Toleranz und Empathie gegenüber den während der Nazi--Diktatur verfolgten und ermordeten Menschen?

Natürlich ist Erinnern ohne höhere Schulbildung möglich! Erst, wenn man es genauer wissen und tiefer liegende Zusammenhänge erkennen will, kommt diese mehr und mehr ins Spiel. Aber zum NS-Historiker muss man auch dann nicht werden. Es gibt inzwischen Literatur genug, um sich auf jedem Bildungsniveau zu informieren.

 

Wenn Sie auf die Gedenktafel für unsere ehemaligen jüdischen Mitbür-gerinnen und Mitbürger schauen, die seit dem 9. November 2008 am Alten Rathaus angebracht ist, und jetzt 3 Jahre dort hängt, finden Sie unter den 68 aufgeführten Personen, die zwischen 1933 und 1944 in Einbeck als „Glaubensjuden“ gemeldet waren, auch den Namen von Alfred Kayser. Er war der einzige jüdische Bürger unserer Stadt, der nach Ende der Nazi-Diktatur in seine Vaterstadt zurückgekehrt ist und hier blieb.

Am 22. September 1907 wurde er in der Grimsehlstraße 7 geboren, besuchte die Bürgerschule und das Realgymnasium bis zur Mittleren Reife (Obersekunda) von April 1914 bis April 1920 und von März 1924 bis August 1927, begann er eine Banklehre in Dortmund und Frankfurt und wurde durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten aus seiner beruflichen Laufbahn gerissen. Es gelang ihm nicht, in Einbeck oder anderswo, seine Ausbildung zu beenden und eine Existenz aufzubauen, zumal sein Vater Theodor „weil er die gegenwärtigen Umstände nicht ertragen konnte“ (gemeint sind die diskriminierenden Maßnahmen der Nazis gegen die Juden seit 1933) am 13. Februar 1935 „freiwillig“ aus dem Leben geschieden war. Theodor Kayser führte in Einbeck in der damaligen Bahnhofstraße 8 bis 1932 ein angesehenes, von seinen Eltern Joseph und Frieda Kayser, geb. Falk, gegründetes Bankgeschäft. Nachdem 1934 alle Versuche der Familie gescheitert waren, Alfred über einen Verwandten in die USA zu vermitteln, verließ er am 1. Oktober 1935 Einbeck, um im Jahr darauf nach Israel zu emigrieren. Dort nahm er die englische Staatsbürgerschaft an, diente in der englischen und israelischen Armee, heiratete seine Frau Miriam und kam nach einem kurzen Aufenthalt als englischer Soldat 1945 in Einbeck aus Israel am 20. Mai 1964 mit seiner Frau nach Einbeck zurück. Er wurde wieder eingebürgert und erhielt 1965 bei der Stadt Einbeck als Verwaltungsangestellter eine Stelle in der Stadtkasse, ging nach 7 Jahren Dienstzeit 1972 in Rente und blieb bis zu seinem Tod in Einbeck. Alfred, der von 1928 bis 1933 der SAJ (Sozialistischen Arbeiterjugend, die „Roten Falken“) der SPD als Führungskraft angehört hatte, wurde wieder aktives Mitglied der SPD und verschiedener örtlicher Vereine. Im Winter 1986 besuchte er ein letztes Mal seine am 19. März 1937 in die USA emigrierte und seit 1963 in San Diego lebende 3 Jahre jüngere Schwester Ilse, bevor er am 13. März 1989 drei Jahre nach seiner Frau Miriam in Einbeck starb. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Teil des Einbecker Zentralfriedhofs, wo auch seine Frau und seine Großeltern begraben sind. Als seine Schwester Ilse Warschawski, geb. Kayser, am 1. März 2008 in La Jolla, San Diego, Kalifornien, USA, sehr vermögend, aber kinderlos als Witwe eines verdienstvollen Professors der Mathematik (Stefan Warschawski 1904 - 1989) im Alter von 98 Jahren verstarb, war der Einbecker Zweig der Familie Kayser ausgestorben, denn seine Mutter Martha, die 1940 in die USA emigrierte, war bereits am 19. November 1971 bei ihrer Tochter verstorben.

 

Einbeck war und blieb Alfreds Heimat und keiner konnte sie ihm nehmen, auch die Nationalsozialisten haben es nicht geschafft. Sie haben seine berufliche und materielle Existenz zerstört und ihn von hier vertrieben, rechtlos und heimatlos gemacht – gebrochen haben sie ihn nicht.

An Alfred Kayser und seine Familie, an seinen Vater Theodor, seine Mutter Martha, geb. May, und an seine Schwester Ilse sollten wir uns erinnern. Wenn Sie meinen Leserbrief zu Ende gelesen haben, dann haben Sie es bereits getan, denn ich schreibe stellvertretend für

 

Alfred Kayser.

 

Grabplatte der Familie Kayser auf dem jüdischen Teil des  Einbecker Zentralfriedhofs (2011)
Grabplatte der Familie Kayser auf dem jüdischen Teil des Einbecker Zentralfriedhofs (2011)

Ich danke der Stadtverwaltung Einbeck für die Genehmigung zur Einsichtnahme in die Personalakte von Alfred Kayser und Friedel und Irmela Kirleis aus Einbeck für die Mitteilungen über Herrn Kayser, den sie beruflich und privat gut gekannt und unter-stützt haben.