Meine Zeit mit Richard Glazar

Überlebender des NS-Vernichtungslagers Treblinka 1942/43

 

Richard Glazar, Nov. 1994 in Einbeck. Foto: Manfred Burba
Richard Glazar, Nov. 1994 in Einbeck. Foto: Manfred Burba

Die Spuren von Richard Glazar aufzunehmen ist leichter als bei vielen anderen Menschen. Er hat zahlreiche Spuren hinterlassen, die dokumentiert sind (in Gerichtsakten, Zeitschriften und Zeitun- gen, Ton- und Bilddokumenten, im Internet usw.) und solche, die in den Herzen seiner Freunde weiterleben, wie bei mir.

Wer er hinter all diesen Spuren wirklich war, habe ich leider nicht mehr von ihm selbst erfahren, dazu war unsere gemeinsame Zeit zu kurz.

Seine Zeit in Treblinka hat ihn jedenfalls für sein Leben geprägt. Sie wurde ihm zur Aufgabe. Sein Umgang mit den damaligen Ereignissen (nicht um sie "bewältigen" und weglegen zu können, sondern um sie als Bestandteil seines Lebens zu akzeptieren) war für mich einzigartig und hat mich beeindruckt. Während z.B. Samuel Willenberg, ein weiterer Treblinka-Überlebender, seine Erlebnisse auch künstlerisch umgesetzt hat, hat Richard Glazar ausschließlich den Weg in die Öffentlichkeit gewählt, um "die Welt wissen zu lassen", was er hinter dem "grünen Zaun" von Treblinka (s. unten) als Häftling und Augenzeuge des Holocaust erlebt hatte.

Er sprach über seine Lagererlebnisse und -beobachtungen wie ein Chronist, der auch kleine Ungenauigkeiten in der Darstellung der Ereignisse nicht durchgehen ließ. Er sagte, wenn er Details nicht (mehr) wusste, ließ sich nicht auf Spekula- tionen ein und konnte sich selbst dabei korrigieren.

Die Wahrheit über seine Verwicklungen in den Holocaust war ihm wichtiger als Gedanken und Gefühle von Hass und Rache, die ich niemals an ihm wahrgenom- men habe. Dabei war er kein sachlich kühler Berichterstatter, sondern ein fröhlicher und mitteilsamer Mensch mit einem trockenen Humor.

Titelbild der deutschen Erst- ausgabe des Buches von 1992 (Fischer-TB Nr.  10764)
Titelbild der deutschen Erst- ausgabe des Buches von 1992 (Fischer-TB Nr. 10764)

Als ich von seinem Tod erfuhr, fühlte ich mich zutiefst verletzt, enttäuscht und verlassen. Erst allmählich löste ich mich von diesen Gefühlen und fing an, auch über ihn und seinen Tod nachzudenken und schließlich auch um ihn zu trauern.

Was mochte ihn zu diesem Schritt bewegt haben? Wurde sein Lebenswille nur durch seine inzwischen verstorbene Frau gestützt, die ihn überallhin begleitet hatte? Waren die 10 Monate in Treblinka in seinem Innersten noch immer wirksam und destabilisierend? Hatte er es folglich nicht wirklich geschafft, am Leben zu bleiben? Warum tat er das seinen Kindern und Freunden an? War ich zu oberflächlich (zu sachlich und distanziert) mit ihm umgegangen? Hätte ich ihm mit etwas mehr Mut vielleicht helfen können? usw. usw.

Ich habe es bis heute nicht geschafft, von ihm Abschied zu nehmen.

Widmung für den Verfasser
Widmung für den Verfasser

 

Das letzte Zeichen seiner Verbundenheit, das ich von ihm bekam, war ein Exemplar seines in tschechischer Sprache geschriebenen Buches "Die Falle mit dem grünen Zaun" (Abbildung, Titelbild der deutschen Ausgabe) mit einer an mich gerichteten Widmung (nebenstehende Abbildung).

 

Den Spuren Richard Glazars nachzugehen war wichtig für mich, weil er ein außergewöhnlicher Mensch war und eine Botschaft in sich trug, die viele (vor allem auch junge) Menschen gehört haben: Ich bin ein Überlebender des Holocaust, der bereit ist, mit euch darüber zu reden. Fragt mich! Nehmt diese vielleicht letzte Chance wahr! Ich sage euch die Wahrheit, wie ich sie gesehen und erlebt habe!

 

                                         Ich vermisse ihn sehr.

 

 

Zum ersten Treffen mit ihm fuhr ich am 22. November 1994 nach Berlin. Dort berichtete Richard Glazar am Morgen des folgenden Tages vor Studenten der Technischen Universität auf Einladung von Prof. Dr. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin über seine Häftlingszeit im NS-Vernichtungslager Treblinka und abends im Literaturforum im Brecht-Haus in Ostberlin (ehem. DDR) über das gleiche Thema vor einem anderen Publikum (Abbildung unten):

Ankündigung von Lesung und Gespräch mit Richard Glazar im Literaturforum im Brecht-Haus
Ankündigung von Lesung und Gespräch mit Richard Glazar im Literaturforum im Brecht-Haus

 

Zwischen den Veranstaltungen hatten wir uns miteinander bekannt gemacht. Am nächsten Tag hatte ich ihn mit Frau privat nach Göttingen eingeladen, wo er tags darauf am 25. November in einer von mir kurzfristig organisierten Veranstaltung des ehemaligen Max-Planck-Instituts (MPI) für Geschichte wiederum vor Studenten sprach. Auf der Bahnfahrt von Berlin nach Göttingen und dort am 26. November hatte ich hinreichend Zeit, mit ihm mein Anliegen durchzusprechen, über Treblinka eine kurzgefasste und preiswerte Broschüre zu schreiben, und ich stellte ihm dazu zahllose Fragen. Diese Gespräche sowie die drei Veranstaltungen liegen als Tonbandmitschnitte vor.


Wir sahen uns zum letzten Mal im Mai 1996 in Prag, wo ich beruflich zu tun hatte und er mich mit Frau Zdenka in der Pension besuchte. Nach einem gemeinsamen Tag und Abend in der Stadt dachte ich kurz daran, ihm das Du anzubieten, traute mich dann aber doch nicht (ich war 16 Jahre jünger), und die Chance war für immer verpasst. Es hätte ihm vielleicht etwas bedeutet, mich auf diese Weise mit ihm zu solidarisieren - und so denke ich heute noch daran.


Sein Freitod am 20. Dezember 1997 im 78. Lebensjahr und der Tod von Zdenka unmittelbar zuvor kamen für mich völlig überraschend. Ich hatte keine Anzeichen dafür weder an ihrem noch an seinem Verhalten bemerkt.

 

 

Literatur

 

Richard Glazar: "Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka": Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1992, Originalausgabe (Abbildung s. oben), Bd. 10764 (Vorwort und Hrsg.: W. Benz), vergriffen (ISBN 3-596-10764-4) und weitere Auflagen 1993 und 1994, Neuauflage, 2001 (ISBN 978-3-596-505890) sowie die vorerst letzte Ausgabe im Unrast-Verlag, Münster und Hamburg, 2008 (ISBN 978-3-89771-819-7). Flucht aus Treblinka. Video-Kassette 1 der Reihe "Erinnern als Vermächtnis - Berichte über Verfolgung und Alltag im National- sozialismus". Auf der vom Berliner Zentrum für Antisemtismusforschung heraus- gegebenen Kassette liest Richard Glazar aus seinem Buch. Presseberichte zum Tod von Richard Glazar: Christoph Schneider: Zum Tod von Richard Glazar. In: diskus 1/98 und Ellen Presser: Der letzte Zeuge. In: Frankfurter Rundschau vom 31. Januar 1989. Von Witold Chrostowski: Extermination Camp Treblinka. Edgware, 2004 (ISBN 978-0-85303-456-8) liegt die neueste historische Abhandlung über Treblinka vor.


" ... ich bedanke mich im Namen der Familie Glazar für ihren würdevollen und wahrheitstreuen Artikel über meinen Vater Richard Glazar."

(Pavla Fröhlich-Glazar, Tochter von Zdenka und Richard Glazar, in einem Schreiben an den Autor vom 23. September 2009)

 

Zum Schluss folgt ein hier erstmals veröffentlichter kurzer Auszug aus dem Tonbandmitschnitt, den ich während der Lesung von Richard Glazar im Literatur- forum im Brecht-Haus in Berlin am 24. November 1994 gemacht habe. Die Tonqualität ist den Umständen entsprechend (Mikrofonaufnahme aus der 1. Reihe der Zuhörer) und wegen der notwendigen Digitalisierung leider schlecht.

Die Tonbandaufnahme startet nach 30 Sekunden Werbung!

 

Bis jetzt habe ich die Tonbandaufzeichnung noch nicht digitalisiert, um sie an dieser Stelle als Tondokument in den Text einzufügen!

 

 

 

 

Für November 2009 hat der Piper-Verlag GmbH, München, einen weiteren Überlebensbericht eines ehemaligen Treblinka-Häftlings, Chil Rajchman, angekündigt. Der Text zu diesem Piper-Sachbuch (ISBN: 9783492053358) geht auf Notizen von Rajchman (1914 - 2004) zurück, die er unmittelbar nach seiner Flucht aus dem Vernichtungslager im August 1942 machte, aber später (er wanderte 1946 nach Uruguay aus) nicht veröffentlichte. Der 6 Jahre ältere Rajchman war Richard Glazar nach eigenen Angaben (Meine Notizen von 1992) aus dem Lager persönlich bekannt.