Reise nach Auschwitz
Ich hatte im Juni 1994 (vom 24. bis 29.6.1994) Gelegenheit, mit einer Gruppe von Studenten, die seinerzeit in Göttingen Geschichte studierten, für einige Tage mit dem Zug nach Auschwitz zu fahren.
Seit längerer Zeit hatte ich mich gründlich in Literatur und Medien über das KZ und Vernichtungslager informiert. Meine mannigfaltigen Kenntnisse drängten mich, mir eine Anschauung des Ortes zu machen, den ich in meiner Vorstellung bereits sehr genau zu kennen glaubte. Heute weiß ich, dass man als Außenstehender Auschwitz niemals kennen und schon gar nicht verstehen wird. Auschwitz bleibt eine ständige Herausforderung der nachgeborenen Generationen, sich mit dem Ort, dem Sytem, den Menschen und den schrecklichen Geschehnissen zu befassen und seine persönlichen Schlüsse daraus zu ziehen.
Mit den Fotos, die auf meinem Weg durch das Stammlager (Auschwitz I) und Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) am 25.6.1994 entstanden, habe ich im Anschluss an die Reise bisher nur das Taschenbuch "Dein aschenes Haar Sulamith. Dichtung über den Holocaust" (Hrsg.: D. Lamping. Serie Piper 1506 von 1992) für mich privat illustriert. Mit den Fotos von damals mache ich jetzt hier den Anfang und habe sie dazu in eine bestimmte Reihenfolge gebracht - dem Weg der Opfer in den Tod. Vielleicht belasse ich es aber auch dabei.
Eine ausführliche schriftliche Beschreibung und Aufarbeitung dieser Reise steht bis heute noch aus. Vielleicht gelingt mir nach nunmehr 19 Jahren, mich den Erlebnissen in der Gedenkstätte Auschwitz wieder anzunähern. Wie ich immer wieder festgestellt habe, sind sie mir mit der Zeit nicht verloren gegangen, sodass ich mich relativ leicht auf sie besinnen könnte, denn sie haben seitdem zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen und sind allmählich zu einem festen Bestandteil meines Denkens und Handelns geworden.
Stammlager (Auschwitz I)
Birkenau (Auschwitz II)
9. Juli 1944:
Ein Transport aus Ungarn erreicht Auschwitz
Wie fast an jedem Tag in diesem Sommer 1944 erreicht auch am 9. Juli ein Transport von ungarischen Juden Auschwitz-Birkenau.
Niemand weiß, wie viele Menschen in den Güterwagen stecken – wahrscheinlich sind es dreitausend: Männer und Frauen, Babys in Kinderwagen, alte Menschen an Krücken. Alle werden sie hinaus gestoßen und geprügelt – geworfen ins Tageslicht aus dem Dunkel der Waggons. Hinein in Lärm und Chaos, hinein in die Schreie der Häftlinge und das Brüllen der SS-Leute. Sie kommen mit ihren Habseligkeiten: In den Koffern Kleidung, Essen, Geschirr, Besteck. Zu dieser Arbeit befohlene Häftlinge nehmen den Neuankömmlingen ihre Sachen ab, weisen ihnen den Weg, manche versuchen sie zu warnen. Denn die Menschen ahnen nichts von dem Schicksal, das sie erwartet. Das Alter ist wichtig, um überleben zu können. Über sechzehn müssen die Juden sein, jünger als fünfundvierzig. Dann haben sie eine Chance, ins Lager aufgenommen zu werden. Direkt an der Rampe erfolgt die Selektion. Geradeaus, das bedeutet die Gaskammer, rechts und links - Frauen- und Männerlager. Es ist ein kurzer Blick der SS-Ärzte, der alles entscheidet. Keine Wunden darf man haben, nicht gebückt gehen, sondern aufrecht, selbstbewusst. Wer kann das noch nach drei Tagen in der erstickenden Enge der Waggons? Kein Kind dürfen die Frauen auf dem Arm tragen oder an der Hand führen. Das ist ein sicheres Todesurteil. Nur von wem die SS glaubt, dass er arbeiten kann, der darf noch eine Weile leben.
An diesem 9. Juli sind es nur zehn Männer, die ins Lager aufgenommen werden. Sie erhalten Nummern, sie sind für den Moment in Sicherheit. Einen anderen Teil der Neuankömmlinge weist die SS als so genannte Depothäftlinge ein: Auf sie warten immer neue Selektionen - immer dann, wenn die Gaskammern nicht ausgelastet sind.
Plötzlich ist es still an der Rampe. Die Juden aus Ungarn sind fort, verteilt auf die Lager, die meisten auf dem Weg ins Gas. Zurück bleibt ihr Gepäck. Das bringen die Häftlinge des "Aufräumkommandos" in die dreißig Depotbaracken in Birkenau. "Kanada" werden sie von den Häftlingen genannt, so reich ist die Ausbeute. Allein 790 Männer arbeiten in diesem Kommando. Insgesamt sind es über zweitausend Frauen und Männer, die in "Kanada" die Habe der Toten sortieren.
Die Nazis haben für alles Verwendung: Für das Zahngold der Ermordeten, für die Haare der toten Frauen. Für die Zahn- und Haarbürsten, für Kleider und Schuhe, für Krücken - und für Kinderwagen. In einem makabren Marsch werden sie zum Bahnhof in die Stadt Auschwitz gebracht, um ins Reich geschickt zu werden: Abgemagerte Häftlinge schieben in langen Reihen die leeren Kinderwagen. Über eine Stunde dauert der Zug. Die ungarischen Kinder sind tot. Deutsche Eltern werden die neuen Besitzer ihrer Wagen sein. Auch das ist Auschwitz.
Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung durch die Redaktion haGalil.com, München, entnommen aus:
Als ich diese Bilder meiner Reise nach Auschwitz aus dem Jahr 1994 technisch bearbeitete und in einen chronologischen Zusammenhang brachte, bin ich den Erlebnissen und Gefühlen wieder nähergekommen, die mich damals bewegten, als ich die Aufnahmen machte. Ich glaube, der Betrachter der Bilder wird es merken, wenn er sich selbst in Ablauf und Aussage der Fotos hineinversetzt.
Damit habe ich meine Reiseerlebnisse in Form dieser Fotos eigentlich schon erzählt und abermals durchlebt. Ich will es damit auch bewenden und den Leser und
Betrachter mit sich allein lassen, um seine eigene Geschichte von Auschwitz vielleicht jetzt anfangen zu lassen, was, wie bei mir, zu einer wichtigen Erfahrung seines Lebens werden
könnte.