Wortbeben

Gedichte aus: Wortbeben, 2007, S. 19 27

 

Ein Pauker der alten Schule

 

 

Man hatte ihn kürzlich nach W. versetzt,

wohl wegen der kränklichen Stimme.

Sein Kehlkopf wurde im Krieg verletzt,

und das war für ihn das Schlimme.

 

Er gab Geschichte und Religion

und musste bei uns unterrichten

und redete nur im Flüsterton

von lauter alten Geschichten.

 

Sobald er von Moses und Aaron sprach,

von Saul und den großen Propheten,

da dachten wir über Fußball nach,

die Mädchen und die Moneten.

 

Und unter den Bänken spielten wir Schach,

auch war uns nach Schlafen und Gähnen;

zur Pause wurden wir wieder wach

mit Kaugummi zwischen den Zähnen.

 

Er dachte an Gott und merkte nicht viel

und hörte sich selber nur sprechen,

da kamen wir auf ein böses Spiel

mit ihm und seinem Gebrechen.

 

Wir brummten im Chor mit lächelndem Mund

und blickten zum Schein in die Runde

und störten so aus dem Hintergrund

die ganze Unterrichtsstunde.

 

Was nutzte ihm all seine Frömmigkeit,

sein Wissen in alter Geschichte,

das Lernen aus der Vergangenheit ... ?

wir machten ihm alles zunichte.

 

Er stand vor der Klasse hilflos und bleich

und bebte an Händen und Füßen.

Es war schon ein hundsgemeiner Streich -

doch keiner musste ihn büßen!

 

 

 

 

Im Strandkorb


 

 

Ich sitze im Strandkorb und hinter mir

geht prachtvoll die Sonne unter;

ich öffne noch schnell eine Flasche Bier

und stürze den Inhalt hinunter.

 

Die Brandung ist ruhig, der Strand ist leer,

die Möwen stochern im Sande;

ich blicke gelangweilt über das Meer

bei nicht mehr ganz klarem Verstande

 

und träume, ich sehe am Horizont

den Heiligen Geist erscheinen.

Er geht auf dem Wasser und sehr gekonnt

hält er sich dabei auf den Beinen.

 

Bald wird er mit seinem Heiligenschein

zu mir an den Strand gelangen;

es fallen mir all meine Sünden ein,

die ich hier auf Erden begangen.

 

Da steht er schon vor mir in voller Pracht

und sagt mir wohl gleich die Meinung,

doch bin ich zuvor aus dem Traum erwacht

geblendet von seiner Erscheinung

 

und sitze im Strandkorb, es fällt das Licht

des Mondes auf See und Gestade

und scheint mir beruhigend ins Gesicht,

und auch auf die Kurpromenade.

 

 

 

Kaffee mit Kästner




Ich sitze im Café und lese

Gedichte, die ich kürzlich fand,

von Erich Kästner aufgeschrieben,

und ausgewählt von seiner Hand.

 

Was er beschreibt in den Gedichten,

das ist im Allgemeinen klein;

er hat ein Herz für »kleine Leute«,

das könnte gar nicht größer sein.

 

Und sein Humor und seine Sprache

sind schlicht und einfach und konkret;

er kann die Welt in Worte fassen,

so dass sie jedermann versteht.


Die Bilder und die Reime treffen

und die Pointen sind prägnant;

ironisch ist er, streng und kritisch

und als Satiriker bekannt.

 

Der erste Eindruck ist meist heiter,

den man von den Gedichten hat,

doch was sie uns zu sagen haben,

das steht auf einem andern Blatt.

 

Ich trinke den Kaffee und gehe

mit seinen Versen in der Hand

nach Haus, wo ich mir eingestehe,

wenn ich auf meine Verse sehe:

Sie haben einen schweren Stand.

 

 

 

Nachruf auf Don Juan

 

 

Die sich hier noch einmal melden,

sind die Opfer eines Helden

aus der Opernszenerie.

Sie agieren für uns weiter,

tragikomisch, ernst und heiter

ohne Textbuch und Regie.

 

Donna Anna, nach der Rache,

denkt jetzt anders von der Sache,

die sie nicht vergessen kann,

denn Ottavio, der Rächer,

wurde mit der Zeit nur schwächer

und wird nie ihr Ehemann.

 

Froh und dankbar ist Masetto,

er bekam die Braut in petto

nach der Hochzeit zu Gesicht;

doch Zerlina träumt im Stillen:

„Wenn ich mich nun seinem Willen ...

aber ach, ich tat es nicht!“

 

Auch Elvira, voller Reue,

hält im Kloster ihm die Treue

über seinen Tod hinaus.

Leporello dient hingegen,

schon allein des Geldes wegen,

längst in einem andern Haus.

 

Der Komtur auf dem Podeste

ruft ihm nach mit finstrer Geste

wie in einem Gruselstück:

„Lug und Trug, das war dein Leben.

Niemand wird dir je vergeben.

Fahr zur Hölle und – viel Glück!“

 

 

 

Sokrates

 

 

Er war im alten Griechenland

bei den Athenern stadtbekannt,

als einer, der sie damit plagte,

indem er alles hinterfragte.

 

Mit dieser neuen Strategie

und seinem Hang zur Ironie,

erreichte er, dass die Befragten

infrage stellten, was sie sagten.

 

Ein jeder stand verlegen da

und wusste nicht, wie ihm geschah

und ging nach Haus zu seinesgleichen

mit einem Kopf voll Fragezeichen.

 

Bald wurden er und sein System

den alten Griechen unbequem,

denn ob auf Plätzen oder Strassen,

er fragte alle gleichermaßen.

 

So brachten sie ihn vor Gericht,

wo er sich treu zu seiner Pflicht

bekannte, dass man fragen müsste,

weil man im Grunde gar nichts wüsste.

 

Das klang den Richtern nach Manie,

nach Hohn und Spott und Häresie,

worauf er sich, der Pflichtbewusste,

mit Schierlingskraut vergiften musste.

 

Da war die ganze Fragerei

im Nu vergessen und vorbei,

man glaubte wieder, was man sagte,

weil keiner es mehr hinterfragte.